Freitag, 26. September 2025

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In die digitale Stadt der Zukunft

Cecilia ist aus unserer Behörde für Digitales nicht wegzudenken. Für jedes noch so schwere Problem scheint sie eine Lösung zu haben. Immer wieder öffnet sie uns Kolleg*innen die Augen. Und das, obwohl ihr eigenes Augenlicht über die Jahre immer schlechter wurde. Cecilia hat mit zunehmender Erblindung ihre Arbeitsweise am Computer umgestellt und ist echt gut ins Team integriert.

Doch wie kommt Cecilia eigentlich zur Arbeit, seitdem sie nicht mehr Auto fahren kann? Nun, sie fand heraus, dass an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW Hamburg) der so genannte „Shared Guide Dog 4.0“ entwickelt wird – ein technisches Produkt, das Blinden mehr Eigenständigkeit geben könnte. Sie fragte nach, ob es sich um eine Art Blindenstock handelt oder gar so etwas wie ein Blindenführhund sei. Die Wissenschaftler von der HAW Hamburg kamen kurzer Hand bei uns vorbei. Cecilia ertastete, dass es sich um einen dreirädrigen sportlichen Offroad-Rollator handelt, mit dem sie sich trotz ihres jungen Alters durchaus in der Öffentlichkeit blicken lassen könnte. Unter der Haube des Fahrzeugs entdeckte Cecilia ganz viel Technik fürs autonome Fahren, so wie es derzeit auch in Autos getestet wird.

Der Logistikprofessor Dr.-Ing. Henner Gärtner von der HAW Hamburg berichtet, wie er es vor Jahren nicht fassen konnte, als er zum ersten Mal in Kontakt mit Blinden kam: „Jedes Auto verfügt über einen piependen Rückfahrassistenten, aber zum Navigieren für Blinde sollen in der digitalen Stadt der Zukunft Stock und Stein herhalten?“ Mit Stock und Stein meint er den Blindenstock und den Blindenleitstreifen. Der Professor weiter: „In den Fabriken unseres Landes wird doch seit über 50 Jahren mit sogenannten Fahrerlosen Transportfahrzeugen vollständig autonom navigiert. Das sind Fahrzeuge, die in Schrittgeschwindigkeit von A nach B fahren und dabei auch Hindernissen ausweichen können. Da könnte ich mich einfach dran festhalten und bei geschlossenen Augen zum Ziel führen lassen. Der Schutz der umherlaufenden Personen ist an diesen Fahrzeugen äußerst ausgereift, denn die Chef*innen dieser Firmen mögen gar nicht gerne über Unfälle berichten. Wenn also seit 50 Jahren das autonome Navigieren in Schrittgeschwindigkeit funktioniert, warum sollte eine solche Navigierhilfe dann nicht auch auf dem Gehweg funktionieren?“

Bild: HAW Hamburg

Auf einmal hat Cecilia viel Fragen über dieses technische Produkt, das gleichzeitig einen gesellschaftlichen Nutzen stiftet, und ihr als blinder Person zu mehr Eigenständigkeit verhelfen könnte: Ob das „Shared“ von „Shared Guide Dog 4.0“ wohl bedeutet, dass sie mit dem Bus in die Stadt kommen kann, um ihn an der Bushaltestelle auszuleihen, so wie andere sonst ein Fahrrad oder einen E-Scooter ausleihen? Ob der auf sie wartende „Guide Dog“ dann bei Ankunft an der Bushaltestelle wohl auch bellt, damit sie als blinde Person ihn überhaupt finden kann? Ob sie sich wohl mit dem „Shared Guide Dog“ über ihr eigenes iPhone verbinden kann, um ihr Ziel mitzuteilen oder über Wegstreckenänderungen informiert zu werden? Ob der „Guide Dog“ (= Führhund) sie auf dem Gehweg auch vor Pfützen oder entgegenkommenden Fußgängern warnen oder gar ausweichen kann? Und ob „4.0“ wohl den Begriff „Industrie 4.0“ repräsentiert? – Immerhin hatte sie ganz viele Sensoren am Fahrzeug ertastet. Denn der Begriff bezeichnet die intelligente Vernetzung von Mensch, Maschine und Abläufen in der Industrie mithilfe von Informations- und Kommunikationstechnologie.

Der Professor bestätigt all ihre Vermutungen und erklärt, dass nicht nur das Fahrzeug, sondern auch der öffentliche Raum technisch ausgestattet werden muss. So wie ein Bus mit der Ampelschaltung kommuniziert, gibt es in Hamburg eine „Teststrecke für Autonomes und Vernetztes Fahren“ (TAVF) durch die Innenstadt. An über 200 Ampeln hängen Empfangs- und Sendestationen, damit sich Autos und der „Shared Guide Dog 4.0“ in Echtzeit über ihre Position, Geschwindigkeit und Fahrtrichtung austauschen können. So kommt Cecilia sicher zur Arbeit in der Behörde.

Cecilias letzte Frage betrifft die rechtliche Zulassung des „Shared Guide Dog 4.0“ im öffentlichen Raum. Der Professor erklärt, dass Jurist*innen noch Jahre über die Verantwortung von Mensch und Technik diskutieren werden: „Wir nutzen diese Zeit, um eine robuste Technik zu entwickeln, den Prototyp zu testen und anschließend das Produkt auf den Markt zu bringen.“

Mehrere Dutzend Blinde haben das Fahrzeug bereits getestet. Anfangs ist es ungewohnt, den vertrauten Blindenstock beiseite zu legen. Doch nach einer Weile fassen die Testpersonen Vertrauen und können sich ohne ständige Sorge vor dem nächsten Hindernis frei bewegen. Die Hoffnung auf eine selbstständigere Zukunft wächst und sie entwickeln oft Ideen für neue oder verbesserungswürdige Funktionen. Darauf freut sich auch Cecilia. Sie wird am Test teilnehmen, denn sie wünscht sich sehnlichst, dass der Traum vom autonomen Fahren auf dem Gehweg bald Wirklichkeit wird.

Weitere Informationen zum „GehwegNavi“ und dem „Shared Guide Dog 4.0“ findet ihr hier.


(Foto: privat)

Prof. Dr.-Ing. Henner Gärtner lehrt und forscht seit 2017 am Department Maschinenbau und Produktion der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Der promovierte Diplom-Wirtschaftsingenieur arbeitete zuvor zwei Jahrzehnte lang in der Produktionslogistik eines großen Luftfahrtbetriebs und erforscht seit 2021 den „Shared Guide Dog 4.0“. 

(Foto: privat)

Der Informatiker Kevin Kleinelümern ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HAW Hamburg in dem vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr geförderten mFund Forschungsprojekt „GehwegNavi“.

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