Donnerstag, 28. März 2024

Erfahrungen eines ehrenamtlichen Abschnittsleiters aus dem Elbehochwasser 2002

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Am 12. und 13. August 2002 ergab sich im mittleren und östlichen Erzgebirge eine dramatische Regensituation. Die in dieser Gegend entspringenden, in Mulde oder Elbe mündenden Flüsse, wie Zschopau, Flöha, Zwickauer Mulde, Freiberger Mulde, Gimmitz, Rote Weißeritz, Wilde Weißeritz und Müglitz schwollen binnen Stunden auf das Mehrfache ihrer sonstigen Größe an. Viele Brücken, ganze Straßenzüge wurden mitgerissen. Energie-, Wasserversorgung und Abwasserentsorgung fielen vielerorts aus. Ganze Dörfer mussten evakuiert werden oder wurden von der Aussenwelt abgeschnitten. Auch Feuerwehr-Gerätehäuser, Polizei- und Rettungsdienststationen wurden überflutet, was das Hilfeleistungspotenzial erheblich reduzierte (Quelle: Wikipedia).

In den betroffenen Regionen wurde Katastrophenalarm ausgelöst.

Weiter flussabwärts wurde die erhöhte Gefahr von Deichbrüchen zum Hauptproblem. Die Elbe flutete eine Landfläche von 592 km², wovon allein 480 km² auf Sachsen-Anhalt entfielen (Quelle: Central Europe Flooding. August 2002).

Bis zum 21. August wurden in Brandenburg und Sachsen-Anhalt mehr als 60.000 Menschen aus gefährdeten Gebieten evakuiert (Quelle: Chronologie: So wütete die Jahrhundertflut 2002 in Sachsen und anderen Regionen, lvz-online.de).

Auch im elbabwärts gelegenen Ohrekreis (heute Landkreis Börde) wurde am 15.08.2002 um 18.00 Uhr der Katastrophenfall festgestellt. Durch den Rückstau des in die Elbe mündenden Flüsschens Ohre bestand die Gefahr von Deichbrüchen der Ohredeiche. Diese wurden mit Sandsäcken zusätzlich gesichert.

Ich befand mich zu diesem Zeitpunkt mit Freunden auf einer Kanutour im schwedisch-norwegischen Grenzgebiet gelegenen Seengebiet des Rogen. Hier gab es damals nur in Ausnahmefällen Mobilfunkverbindung. Durch Zufall erreichte mich eine SMS meiner Frau mit der Nachricht über den Katastrophenfall. Ich bin auf den nächstgelegenen Berg gestiegen und konnte den damaligen Leiter des Amtes für Brand- und Katastrophenschutz telefonisch erreichen. Er sagte mir. „Wenn Du kannst, komm zurück. Uns gehen die Führungskräfte aus. Wir brauchen Dich hier!“

Wir haben daraufhin unsere Tour sofort abgebrochen und die Rückreise über Oslo angetreten. Einen Fährplatz zu bekommen war auf Grund des hohen Touristenaufkommens gar nicht so einfach. Uns hat dann die norwegische Color-Line eine Kabine für die Überfahrt zur Verfügung gestellt. Als die Mitarbeiter der Color-Line erfuhren, weshalb wir so plötzlich abreisen wollten, war die Antwort: „Ihr fahrt kostenlos. Das ist unsere Fluthilfe für Euch.“

Die Fähre erreichte um 09.00 Uhr morgens Kiel. Noch am gleichen Nachmittag habe ich mich beim Katastrophenschutzstab in Haldensleben gemeldet.

Am 21. August bot sich die Möglichkeit, auf Grund der sinkenden Wasserstände den Rückbau von Sandsäcken zu planen. Damit sollte der Ohredeich entlastet werden, der bei abziehendem Wasser durch die Last der Sandsäcke in seiner Stabilität gefährdet war.

Am Morgen des 21.08.2002 bestieg ich in Haldensleben meinen neuen „Dienstwagen“ – einen Panzer Fuchs der Bundeswehr und bin in das Überschwemmungsgebiet gefahren. Mein Auftrag: sich ein Bild der Lage machen, ein Konzept für den Rückbau der Sandsäcke und eine Planung der benötigten Kräfte und Mittel erstellen.

Nach Beratung mit den Deich-Experten stand fest: Der Rückbau der Sandsäcke muss ohne schwere Technik mit Booten wasserseitig erfolgen. Ein landseitiger Rückbau und die damit verbundene Belastung durch Kräfte und Mittel hätte zu einem Bruch der durchweichten Deiche führen können.

Bereits am nächsten Morgen waren die angeforderten Kräfte und Mittel auf dem Anmarsch: Bundeswehr, Kräfte von Freiwilligen Feuerwehren, THW und DLRG sowie zivile Helfer. Über den Verlauf der Maßnahme insgesamt 500 Einsatzkräfte.

Nachts wurden die Arbeiten unterbrochen. Ich habe die Nachtstunden genutzt, Einsatzpläne für den nächsten Tag zu erstellen und diese an den Stab gefaxt. Diese Vorgehensweise hat uns die Unterstützung der Bundeswehr bis zum letzten Tag des Katastrophenschutzeinsatzes gesichert.

Am 23. August 2002 machten die sinkenden Wasserstände den weiteren wasserseitigen Rückbau unmöglich. Am Nachmittag des gleichen Tages wurde mit dem landseitigen Rückbau begonnen.

Am 26. August um 18.00 Uhr konnte der damalige Landrat des Ohrekreises, Herr Thomas Webel, den Katastrophenfall aufheben. Seine Einschätzung. „Der Einsatz der Kräfte und Helfer im Ohrekreis hat Deichbrüche wirkungsvoll verhindert.“

Fazit:

  • Wir hatten zu keinem Zeitpunkt einen Mangel an Hilfskräften. Wir hatten die ganze Zeit über einen Mangel an für Katastrophenschutzeinsätze geeigneten Führungskräften.
  • In vielen Freiwilligen Feuerwehren bestand und besteht Schulungsbedarf in der Führung größerer Einheiten und Verbände.
  • Die wirkungsvolle Katastrophenbekämpfung erfordert eine vorausschauende Planung der Maßnahmen, Kräfte und Mittel durch erfahrene Führungskräfte.
  • Eine effektive Zusammenarbeit zwischen Stab, Technischer Einsatz- und Abschnittsleitung ist Voraussetzung für den Erfolg. Dabei ist die Delegierung von Aufgaben und die stringente Anwendung der FwDV100 wichtig.
  • Die tägliche Planung der Maßnahmen entsprechend der jeweiligen Lagebewertung hat eine wirksame Unterstützung durch die Bundeswehr ermöglicht.
  • Eine offensive Pressearbeit versachlicht die Berichterstattung in den Medien.
  • Der Mobilfunkverkehr sowie Internetverbindungen sind in solchen Lagen nicht durchgehend gewährleistet.
  • Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung war sehr groß:

Epilog

Im Herbst des Jahres 2002 lud mich der damalige Vorstandsvorsitzende der Dräger Safety AG & Co. KgaA, Herr Prof. Albert Jugel, zum Frühstück in ein Magdeburger Parkrestaurant ein. Anwesend war auch der damalige Präsident des Deutschen Feuerwehrverbandes, Herr Gerald Schäuble.

Beide diskutierten mit mir, ob ich mir vorstellen könnte, in Magdeburg einen Studiengang ins Leben zu rufen, der für zukünftige Großschadens- und Katastrophenlagen Führungskräfte ausbildet. Meine Antwort: „Ja ich kann.“                                                   

Mit einer Anschubfinanzierung der Dräger Safety wurde 2003 der Studiengang „Sicherheit und Gefahrenabwehr“, gemeinsam von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, der Hochschule Magdeburg-Stendal und dem IBK Heyrothsberge gestartet.

Seit 2003 werden in Magdeburg Führungskräfte, nicht nur für die BOS, sondern auch für die Industrie, Ingenieurbüros, Feuerwehren der Bundeswehr usw. ausgebildet.

Auch die Konzeption „Zivile Verteidigung“ von 2016 nimmt neben den Terroranschlägen vom 11. September in New York Bezug auf das Sommerhochwasser 2002.

Anekdote

Im Jahr 2015 hatten meine chinesischen Dräger-Kollegen mich eingeladen, in Beijing auf einem Kongress, der als Begleitveranstaltung zu einer Arbeitsschutz-/Arbeitssicherheitsmesse stattfand (analog und in Partnerschaft mit der A+A), einen Vortrag über ganzheitliches Sicherheits- und Notfallmanagement zu halten.

Eingeladen waren auch Mitarbeiter verschiedener deutscher Institutionen. Die Vorstellungsfolien der Referenten erschienen mir sehr eintönig. Ich habe dann spontan in meine Vorstellungsfolie Bilder meines Hochwassereinsatzes von 2002 eingefügt.

Vortrag auf dem 9th China International Forum on Work Safety am 17. Oktober 2018 in Hangzhou (Foto: Privat)

Am nächsten Tag war ich zur Kundenbetreuung am Dräger-Stand auf der Messe eingesetzt. Plötzlich kam ein Besucher – offensichtlich genoss dieser sehr hohe Autorität – begleitet von einer Gruppe Mitarbeiter direkt auf mich zu und sprach mich in Chinesisch an. Ich merkte, wie meine Dräger-Kollegen förmlich in Ehrfurcht erstarrten. Dann war er auch schon wieder weg. Sein Dolmetscher übersetzte für mich ins Englische seine Worte – wie sich herausstellte eines hochrangigen Hauptabteilungsleiters in der damaligen State Administration of Work Safety der Volksrepublik China (heute Ministry of Emergency Management).

„Ein Feuerwehrmann und Professor für Gefahrenabwehr, der in Katastrophen auch militärische Einheiten führen kann, ist mein Mann“. Es folgte eine Einladung zu einem Workshop mit seinen Mitarbeitern.

Seitdem war ich regelmäßig – bis zur Corona-Pandemie – zu Vorträgen und Workshops mit Mitarbeitern der State Administration of Work Safety, bzw. des Ministry of Emergency Management in vielen Städten und Institutionen, auch in Tianjin nach dem großen Explosionsunglück von 2015.

Prof. Dr. Peter Schmiedtchen, 67 Jahre alt, verheiratet zwei Töchter.

Von 1972 bis 1977 Studium der Physik an der Staatlichen Universität Charkow.

1990 Promotion an der TU Dresden „Grundlagen der Infrarotmesstechnik im Brandschutz“.

Seit 01.01.1991 Mitarbeiter in der Dräger Safety AG & Co. KGaA.

Seit 2003 Vorlesungen im Studiengang „Sicherheit und Gefahrenabwehr“.

2015 Berufung zum Honorarprofessor für Gefahrenabwehr an der Hochschule Magdeburg-Stendal.

Seit 45 Jahren Feuerwehrmann, Verbandsführer.

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