„Warum wählen wir nicht einfach online?“ – Gute Frage, die sich ein Reel auf dem Instagram-Kanal der Bundeswahlleiterin stellt. Doch die Antwort ist ernüchternd. Keine 30 Sekunden braucht die Protagonistin, um bei einem Gang durchs Amtsgebäude von Wahlbetrug, schwer erkennbaren Softwarefehlern, Manipulation und Hackerangriffen bis hin zu fehlender Transparenz zu gelangen. Dass an diesen ernstzunehmenden Risiken bereits seit Jahren gearbeitet wird, erfährt man in dem Kurzvideo nicht.
Estland, die Schweiz und selbst Deutschland mit den 2023 unter strengen BSI-Standards durchgeführten Sozialwahlen konnten zeigen, dass es Mittel und Wege gibt, diesen Risiken zu begegnen. Warum also so endgültig über die Probleme von Online-Wahlen reden? Schließlich sind sie mehr als nur „praktisch“. Sie sprechen vor allem Erst- und Jungwähler*innen an, leisten einen Beitrag zur Barrierefreiheit, ermöglichen deutschen Wähler*innen im Ausland eine unkompliziertere Teilnahme und flexibilisieren nicht zuletzt Zeitpunkt und Ort der Stimmabgabe.
Der Glaube, dass nur Online-Wahlen fehleranfällig sind und die Wahl im Wahllokal oder per Brief keine Probleme mit sich bringen, ist und bleibt ein Trugschluss. Erinnern wir uns nur an das Berliner Wahldebakel 2021: Falsche oder fehlende Stimmzettel, Neuauszählungen und Warteschlangen, die teilweise dazu geführt haben, dass Menschen gar nicht gewählt haben und Wahlen ganz oder teilweise nachgeholt werden mussten. Optimierungspotenziale, an denen Online-Wahlen ansetzten können.
Angesichts der Vorteile und der kontinuierlichen Arbeit an der Sicherheit ist die Frage nicht nur, ob uns Online-Wahlen etwas bringen oder ob wir sie sicherer machen können, sondern was sie mit unserem Vertrauen machen und wie wir dieses insgesamt stärken können. Denn schließlich gründet auch auf dem Vertrauen in die Wahl die Legitimation der Regierung und damit letztlich auch die des demokratischen Systems an sich.
Versuche, das Vertrauen und die Legitimation auszuhöhlen, lassen sich schon bei Briefwahlen beobachten. Nicht nur Trump hat nach der verlorenen Präsidentschaftswahl 2020 die Wahlen als „rigged“ bezeichnet. Auch die AfD hat hierzulande versucht, Misstrauen gegen die Briefwahl zu schüren. Wenn man also Online-Wahlen öffentlich ohne stichhaltige Anhaltspunkte so kritisiert, leistet man solchen Erzählungen unabsichtlich unnötigen Vorschub.
Zahlen des Kompetenzzentrums Öffentliche IT zeigen, dass das Vertrauen in die letzte Bundestagswahl hoch war. 77 % vertrauten der Durchführung ganz oder eher, 10,1 % eher nicht und 8 % gar nicht. Online-Wahlen würden das Vertrauen insgesamt noch weiter stärken, denn neben 37,8 %, bei denen sich das Vertrauen im Vergleich zur letzten Bundestagswahl durch Online-Wahlen nicht veränderte, sagen insgesamt 43,9 %, dass sie in ihrem Vertrauen eher oder deutlich gestärkt würden.
Doch auf der Detailebene zeigt sich: Den Vertrauensboost erleben hauptsächlich diejenigen, die ohnehin in das System vertrauen. Betrachtet man nur diejenigen, die bereits skeptisch auf die Bundestagswahlen blicken, führen Online-Wahlen bei 44,7 % von ihnen eher zu einem Vertrauensverlust. Verschlechtert oder verfestigt sich dieses Misstrauen, kann das zu einem größeren Problem werden.
Noch gibt es in Deutschland kaum Erfahrungswerte. Möglichkeiten, diese zu schaffen, gibt es genug: Online-Wahlen für Deutsche im Ausland, weitere Erprobung bei kleineren Wahlen wie den Sozialwahlen nach Standards, die der einer Bundestagswahl ähneln, breit angelegte und innovative digitale Beteiligungsformate mit Abstimmungsmöglichkeiten und vieles mehr. Wenn alle Bürger*innen Erfahrungen sammeln können und Verwaltung und Politik Schwachstellen kritisch gegenübertreten und beseitigen können, müssen wir uns nicht mehr nur auf unser Gefühl verlassen, sondern schaffen echtes Bewusstsein und Transparenz. Dann sind in Zukunft vielleicht Reels möglich, die uns statt Ernüchterung eine Perspektive bieten.

Jan Hendrik Gräfe schließt aktuell mit seiner Masterarbeit zur Einführung von Online-Wahlen in Deutschland sein Studium der Politik- und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin ab. Als Research Assistent beim Kompetenzzentrum Öffentliche IT am Fraunhofer FOKUS betreut er unter anderem die Wissenschaftskommunikation.