Donnerstag, 25. April 2024

Vive la révolution?

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Scarlett Lüsser
Scarlett Lüsser
Scarlett Lüsser ist Volontärin in der Online-Redaktion und kümmert sich auch um Social Media und Podcasts. In ihrer Freizeit spielt sie gerne alle Arten von Gesellschaftsspielen.

Im Kommentar zu Beginn der Ausgabe haben wir es ja schon einmal angeschnitten – Frankreich ist sehr viel streikfreudiger als Deutschland. Wie man auch jetzt gerade an den Protesten gegen die Rentenreform sehen kann. Bereits im letzten Herbst wurde über die neue Rentenreform diskutiert und immer wieder dagegen demonstriert. Seit dem 19. Januar wird zusätzlich gestreikt und in den letzten Tagen spitzt sich die Lage deutlich zu. Aber warum die ganze Aufregung und was unterscheidet die französische Streikkultur von der Deutschen?

Woher kommt die Streiklust der französischen Bevölkerung?

Das lässt sich unter anderem auf die Entwicklung der französischen Demokratie zurückführen. Diese hat nämlich der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau mit einem Gedanken geprägt: Das französische Staatssystem soll direkt den Willen der Bürger repräsentieren, ohne dass eine vermittelnde Instanz zwischengeschaltet ist. Aus diesem Grund waren Gewerkschaften auch bis Ende des 19. Jahrhunderts verboten, sodass sie sich seither erst zögerlich entwickeln. Das schlägt sich auch in den Mitgliedszahlen nieder. In ganz Westeuropa gibt es kein Land, in dem weniger Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert sind.

Durch die geringe Beteiligung haben die Gewerkschaften auch wenige Chancen, einen repräsentativen Stand einzunehmen und als Vermittler in Vorgespräche zu gehen, was die Streiks eventuell etwas ausbremsen könnte. Zudem sorgt die sehr zentrale Politik und die geringe Vertretung von tatsächlichen bürgerlichen Interessen im Parlament dafür, dass die Bürger*innen sich institutionell wenig eingebunden fühlen. Da es auch wenige Kontrollinstanzen und Kompromissnöte im Parlament gibt, richtet sich die Unzufriedenheit der Menschen häufig auf eine*n Schuldige*n und die Proteste werden mit öffentlichkeitswirksamen Mitteln wie Blockaden und Besetzungen durchgeführt.

Allgemein gibt es aber auch einen Grund, warum Gewerkschaften nicht so wichtig sind, wie in Deutschland. Denn in Frankreich ist das Recht zu Streiken in der Verfassungspräambel enthalten. Außerdem können Streiks nicht nur von Gewerkschaften ausgerufen werden, hier reicht es, wenn mindestens zwei Arbeiter*innen ihre Beschäftigung niederlegen. Durch die französische Volksseele, wie es Politikwissenschaftler Johannes Maria Becker gegenüber der Frankfurter Rundschau nennt, sind die Einwohner Frankreichs auch zumeist solidarisch zu ihren streikenden Mitbürgern. Becker bezeichnet das als „kollektives Bewusstsein für Unrecht“, denn dann zieht es alle auf die Straße und nicht nur die Betroffenen.

Darüber hinaus ist auch ein Generalstreik möglich, wie es jetzt gerade der Fall ist. Die französischen Unternehmen können zwar nichts für die Rentenreform, die Präsident Macron auf den Weg bringen möchte. Dennoch legen die Arbeitnehmer*innen ihre Arbeit nieder und gehen gegen das Gesetz auf die Straße. In Deutschland undenkbar. Zwar ist es hier nicht per se verboten, denn ein tatsächliches Gesetz dagegen gibt es auch hierzulande nicht, aber ob es wirklich legal ist, ist nicht endgültig geklärt. Denn der Generalstreik ist zwar nicht explizit vom Streikrecht ausgeschlossen, aber er wäre nur unter dem sehr unwahrscheinlichen Fall zulässig, dass sich alle Gewerkschaften auf eine tarifpolitische Interessenverfolgung für alle Wirtschaftszweige einigen würden.

Trotzdem sind die Spielregeln in Deutschland etwas anders als in Frankreich, was mit zu der unterschiedlichen Streikkultur beiträgt. So darf in Deutschland nur zum Abschluss eines Tarifvertrages oder als Warnstreik während einer laufenden Vertragszeit gestreikt werden. Zusätzlich gilt während der Verhandlungen ein „Friedensrecht“, währenddessen nicht gestreikt werden darf. Und ganz wichtig: Der Grundsatz der „Verhältnismäßigkeit“, der besagt, dass das Gemeinwohl durch Streiks nicht verletzt werden darf. Aus diesem Grund sind Streiks in z. B. Krankenhäusern oder Versorgungsbetrieben umstritten. Zusätzlich verhindert dieser Punkt einen Generalstreik. Lediglich den Beamt*innen des Öffentlichen Dienstes ist es untersagt, zu streiken. Ein Punkt mehr, warum Gewerkschaften auch im Public Sector sehr wichtig sind.

Wo in Deutschland die Gewerkschaften zumeist zusammenarbeiten, sind sie in Frankreich sehr zersplittert und sich meist uneins. Der Kampf gegen die Rentenreform stellt in der Hinsicht eine Ausnahme dar. Denn diese ist inakzeptabel, da sind sich die Gewerkschaften einig.

Um was geht es eigentlich bei der Rentenreform?

Die von Präsident Macron auf den Weg gebrachte Rentenreform soll der Wirtschaftskrise entgegenwirken und das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre anheben. Außerdem soll die Beitragsdauer auf 43 Jahre verlängert werden. Was bedeutet das? Wer bereits 43 Jahre gearbeitet hat, darf schon früher in Rente gehen, ohne Abzüge zu erhalten. Alle anderen müssen bis 64 arbeiten, um die volle Rente ausgezahlt zu bekommen. Zum Vergleich: Für Deutsche liegt die maximale Beitragsdauer bei 45 Jahren und das Renteneintrittsalter bei 67 Jahren.

Und warum wehrt sich die französische Bevölkerung mit Händen und Füßen dagegen?

Frankreich besitzt einen großen Nationalstolz und ist von den Errungenschaften seines Sozialsystems überzeugt. Eine Veränderung an diesem System wird daher als Angriff auf den „Wohlfahrtsstaat“ gewertet, wie es die Bundeszentrale für politische Bildung formuliert. Zudem sieht Frankreich seine eigene politische und wirtschaftliche Souveränität als sehr schützenswert an, weshalb es auch der Globalisierung kritisch gegenübersteht. Diese Einstellung vermindert aber auch ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Ländern und die Wirtschaftskrise verschärft das Problem und die damit einhergehende Arbeitslosigkeit zusätzlich. Was dazu führen könnte, dass Arbeitnehmer*innen vor weiteren Protesten zurückschrecken, aus Angst ihre Stellen zu verlieren. Denn das ist einer der Nachteile, wenn man nicht in einer Gewerkschaft ist: Die finanzielle Absicherung wird von niemandem gewährleistet.  Dennoch schlagen die Proteste in Frankreich mittlerweile in Gewalt um, denn der Präsident möchte die Reform um jeden Preis einführen – und wenn es durch eine Hintertür am Parlament vorbei ist. Aber die Reform sei nötig, damit das Rentensystem überhaupt erhalten werden könnte, so Macrons Rechtfertigung, wie das ZDF berichtet.

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