Samstag, 20. April 2024

Ist gezielte Migration der Königsweg?

Deutschland ein Mehrgenerationenhaus

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Deutschland ist sowohl national als auch international für sein stabiles Sozialsystem bekannt. Es stellt sich daher politisch als auch gesellschaftlich immer wieder die Frage, wie der Erhalt eines solchen Systems langfristig gesichert werden kann. Durch den demografischen Wandel zeigen sich seit vielen Jahren die gravierenden Auswirkungen auf den Fachkräftemangel und somit auch zwangsläufig auf die Wirtschaft. In Deutschland hat laut einer Studie im Jahr 2022 der Fachkräftemangel ein neues Rekordniveau erreicht. Rechnerisch konnten im vergangenen Jahr mehr als 630.000 offene Stellen für Fachkräfte nicht besetzt werden. Um diesem Dilemma entgegenzuwirken, wird häufig über gezielte Migration als geeignete Lösung diskutiert, denn für ein funktionierendes Sozialsystem bedarf es insbesondere einer funktionierenden Wirtschaft durch junge Fachkräfte. Mit Hochdruck wird daher versucht geeignete Fachkräfte aus dem Ausland zu rekrutieren. Gerade für den Pflegebereich ist ein großer Bedarf an Fachkräften vorhanden.

Gesetzliche Grundlagen, wie der Erlass des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes sollen diesen Prozess unterstützen und erleichtern. Wirtschaftsunternehmen beklagen allerdings nach wie vor zu hohe bürokratische Hürden und unzureichende Strukturen im In- und Ausland. Hier gemeint sind insbesondere Bearbeitungsrückstände in Konsulaten im Ausland und in kommunalen Ausländerbehörden. Fachkräfte und Arbeitgeber*innen beklagen explizit die enormen Verzögerungen durch zu lange Wartezeiten, welche wiederum u.a. auf den Personalmangel in Ausländerbehörden und die fehlende Digitalisierung zurückzuführen sind. Kommunen beklagen oftmals die Auslastung vorhandener Kapazitäten und Erbitten mehr Unterstützung vom Bund, um den Aufwand in Bezug auf Migration bewältigen zu können.

Eine Differenzierung von gezielter Migration durch Fachkräfte und Fluchtmigration ist kaum möglich, was zu einer Zunahme an Komplexität führt. Ein gutes kommunales Migrationsmanagement und stabile Verwaltungsstrukturen sind somit existenziell für die Integration von Zugewanderten in den Arbeitsmarkt. Hier gemeint sind nicht nur ausschließlich Neuzugewanderte, sondern auch die Zugewanderten, die seit vielen Jahren in Deutschland wohnhaft sind und ohne die regelmäßige Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis und somit Arbeitserlaubnis keiner Beschäftigung nachgehen können, sofern sie nicht eingebürgert oder im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis sind. Mit Blick auf die deutschen Behördenstrukturen steht fest, dass ein Ausbau der Kapazitäten innerhalb der Kommunen unverzichtbar ist. Die Stärkung der Kommunen hat zweifelsfrei eine positive Auswirkung auf die Bearbeitungsdauer der Anträge und kann theoretisch eine schnellere berufliche Integration ermöglichen, aber ist das als alleinige Maßnahme ausreichend? Welche anderen Maßnahmen sind für die Sicherung des deutschen Wohlstandes und die Entlastung des Sozialsystems noch erforderlich? Ist Migration tatsächlich der Königsweg?

Es besteht in Deutschland kein Konsens darüber, dass Migration zwangsläufig die Stabilisierung des Sozialsystems bedeutet, sondern oftmals wird eher die Destabilisierung des Sozialsystems durch Migration befürchtet. Ressentiments über Migrant*innen und Flüchtlinge erschweren die Debatten. Es wird daher versucht durch gezielte Selektion die Menschen zu gewinnen, die nützlich für unser Wirtschaftssystem sind und zur Sicherung unseres Sozialsystems beitragen.

Einer der Aspekte nach denen diese Selektion erfolgt ist der Anspruch an die vorhandene Qualifikation. Bei der Anerkennung der im Ausland erworbenen Qualifikationen, ist wenig Flexibilität vorhanden. Als Begründung dafür werden Ängste vor Qualitätsunterschieden benannt. Der Weg über Nachqualifizierungen findet kaum Anwendungen, so geht leider viel Potenzial durch unrealistische Ansprüche verloren. In den politischen Debatten hören wir oftmals von einem Kurswechsel, damit zeigt sich, dass eine Änderung der deutschen Migrationspolitik unbedingt erforderlich ist. Die Migrationspolitik und die gesetzlichen Grundlagen entscheiden letztendlich darüber, ob Migration das Sozialsystem entlastet oder belastet.

Ein gutes Beispiel dafür ist die aktuelle Situation in Bezug auf das kürzlich erlassene Chancenaufenthaltsrecht, welches u.a. eine Auswirkung auf die Menschen hat, die sich seit vielen Jahren ohne Aufenthaltstitel in der Bundesrepublik aufhalten. Anstatt dessen sind sie seit vielen Jahren im Besitz einer Kettenduldung. In den meisten Fällen stehen sie dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung und sind auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz angewiesen, obgleich eine Bereitschaft zur Ausübung einer Berufstätigkeit vorhanden ist. Der fehlende Aufenthaltstitel schließt eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt aus. Dieser Umgang kann als eine Sanktion für die Menschen gewertete werden, die hier in Deutschland keinen dauerhaften Aufenthalt haben sollen, sondern zurück in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden sollen. Meist ist eine Abschiebung aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich, sodass die Folgen der jahrelange Bezug von Sozialleistungen und kaum Integrationsmöglichkeiten sind.

Wen trifft diese Sanktion allerdings noch? Hat dieser Umgang nicht Auswirkungen auf die Gesellschaft insgesamt? Insbesondere im Hinblick auf das Sozialsystem, muss ein durchaus großes Interesse an der Umsetzung dieses Gesetzes vorhanden sein, allerdings kommen viele Kommunen aufgrund der Auslastung nicht zu einer Umsetzung.  

Deutschland hat für viele Fachkräfte aus dem Ausland an Attraktivität verloren und gleichzeitig befindet wir uns im Zustand der Abhängigkeit durch den enormen Fachkräftemangel. Migration kann eine Lösung sein, allerdings auch nur, wenn sich die Haltung zur Migration insgesamt verändert und wir eine Willkommenskultur entwickeln, durch die wir für Fachkräfte aus dem Ausland an Attraktivität zunehmen.

Übrigens: Im Januar 2023 erschien der Dokumentarfilm “Die missachteten Jugendlichen” von Souad Lamroubal. Reinschauen lohnt sich.


(Foto: Uwe Schmitz)

Souad Lamroubal ist Fachexpertin für Migration, Integration und Bildung, Autorin und Moderatorin. Im September erschien ihr Buch “Yallah, Deutschland, wir müssen reden!”. Seit dem Jahr 2006 ist sie Kommunalbeamtin. Neben jahrelanger Mitwirkung in kommunalen Ausländerbehörden war und ist ihr Schwerpunkt die rassismuskritische Migrationsarbeit. Als Dozentin für interkulturelle Handlungskompetenz, Rassismuskritik und soziale Kompetenzen lehrt Souad Lamroubal am Studieninstitut für öffentliche Verwaltung. Seit 2015 ist sie ehrenamtliche Vereinsvorsitzende. Darüber hinaus organisiert sie regelmäßig die Bonner Comedy Nacht („Humor öffnet Grenzen“), die sie im Jahr 2017 initiierte.

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