Mittwoch, 24. April 2024

“Hier beginnt der Einsatz”

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Bennet Klawon
Bennet Klawon
Bennet Klawon ist zuständig für den Bevölkerungs- und Katastrophenschutz. Manchmal richtet er bei Kochexperimenten selbst mittlere Katastrophen an.

“Der Bürger, der Hilfe braucht, ruft die 112”, sagt Steffen Demuth. Hilfebedürftige in München haben eine gute Chance, ihn bei einem Notruf am anderen Ende der Leitung zu hören. Er ist Leitstellendisponent in der Integrierten Leitstelle (ILS) an der Feuerwache 4 in München. Am Nerv der Stadt bekommt er als erster die kleinen und großen Unglücke mit.

Der 38-Jährige wollte eigentlich schon immer zur Feuerwehr. Der Vater von einem sechs Jahre alten Sohn wählte dabei den klassischen und geraden Weg zu den Rettern. An den Beruf des Leitstellendisponenten dachte er bei seiner Berufswahl jedoch noch nicht. Zunächst absolvierte er eine Ausbildung zum Nutzfahrzeugtechniker und wechselte anschließend sofort zur Berufsfeuerwehr München. Das war 2002. Dort verfolgte Demuth die übliche Laufbahn innerhalb der Feuerwehr.

Während eines Praktikums, das er in seiner Ausbildung zum Rettungsassistenten absolvieren musste, kam er das erste Mal in den direkten Kontakt mit der Leitstellenarbeit. Diese Arbeit und das Team haben ihn damals nachhaltig beeindruckt. Auch reizte ihn die Übernahme von mehr Eigenverantwortlichkeit. “Ich glaube, man braucht einen gewissen Spleen, um als Disponent zu arbeiten. Vielleicht gibt es auch so etwas wie ein Leitstellen- Syndrom”, sagt Demuth lachend zu seinem Weg in die Leitstelle.

Er startete als Feuerwehrbeamter im mittleren Dienst und darf sich nun Brandinspektor nennen. Aber dies ist nicht alles. Eine Besonderheit in München ist die spezielle Leitstellen-Laufbahn. Diese Einrichtung stellt sowohl in Bayern als auch in der Bundesrepublik ein Novum dar. Auf dieser nimmt er mittlerweile die Experten-Position ein, die in der dritten Qualifikationsebene ist (ehemals gehobener Dienst). Dies bedeutet, dass Demuth als erfahrener Disponent andere Kameraden in der Leitstelle schult und ihnen beratend zur Seite steht, wobei Kameradschaft und gegenseitige Hilfe selbstverständlich auf der Feuerwache 4 sind. “Wir sind eine große Familie und stützen uns gegenseitig. Bei den langen Diensten ist das aber auch besonders wichtig”, betont der Disponent. Derzeit wartet Demuth im Rahmen seines modularen Aufstieges auf einen Lehrgangsplatz, sodass er nach erfolgreichem Abschluss zum Brandoberinspektor befördert werden kann.

“Ich möchte den 24-Stunden-Dienst nicht eintauschen”

Ein typischer Arbeitstag beginnt für Demuth um sieben Uhr morgens und dauert 24 Stunden. Davon sitzt er natürlich nicht 24 Stunden lang in der Leitstelle. Bei der Gestaltung des Dienstes orientieren sich die Feuerwehrleute in München am Betrieb von Fluglotsen im Tower. Während seiner Schicht nimmt Demuth in drei Blöcken zu je drei Stunden, der sogenannten “Tischzeit”, Notrufe in der Leitstelle entgegen. Zwischen den Blöcken widmet sich der 38-Jährige der Ausbildung und Schulung oder leistet Bereitschaftsdienst. “Ich möchte aber auf keinen Fall den 24-Stunden-Dienst abgeben. Durch eine andere Gestaltung des Dienstes könnte ich nicht so viel Zeit mit meinem Sohn verbringen. Der Dienstplan ist so für mich extrem flexibel. Der Ausgleich zwischen Freizeit und Arbeit passt einfach”, bekräftigt Demuth. Nach einem geleisteten Dienst hat der Feuerwehrmann anschließend einen gesamten Tag frei bis zum nächsten 24-Stunden-Dienst auf der Wache.

Sein Arbeitsort befindet sich im obersten Stock der Feuerwache vier im Münchner Stadtteil Schwabing. Die erst 2017 in Betrieb genommene Leitstelle stößt mit ihren 30 Einsatzleitplätzen bei besonderen Einsatzlagen bereits jetzt schon an ihre Grenzen. Wie im Rest Deutschlands sei das Notrufaufkommen auch in München in den vergangenen Jahren stark gestiegen.

Der Arbeitsplatz von Demuth befindet sich in einem von natürlichem Licht durchfluteten großen Raum, in der eine ständige Geschäftigkeit herrscht. Immer wieder blinken Lampen auf, mehrere Personen reden durcheinander und ein großer Bildschirm an der Wand verkündet den neusten Stand in Sachen Corona. Trotzdem fällt die Gelassenheit und Routine auf. In kleinen Inseln stehen nebeneinander die Arbeitsplätze der Disponenten. Der Leitstellendisponent blickt auf eine Front von sechs Bildschirmen. Mit ihnen hat Demuth den Überblick über die gesamte Situation in München und Umgebung. Auf einer Stadtkarte können die genaue Position von jedem Einsatzfahrzeug eingesehen und auf einer sich ständig aktualisierenden Liste alle offenen und beendeten Einsätze in der Landeshauptstadt nachvollzogen werden. Auf einem nächsten Bildschirm sieht er, verschiedenfarbig unterlegt, die Einsatzbereitschaft von jedem Fahrzeug mit Kennung. Auf dem zentralen Monitor befindet sich die Eingabemaske für die Einsätze.

Die Königsdisziplin: Telefon-Reanimation

Mit ruhiger Stimme nimmt Demuth jeden Anruf entgegen. Auch wenn es manchmal viele auf einmal werden. Jeder Anruf wird mit der ihm gebotenen Aufmerksamkeit behandelt und beginnt gleich: “Feuerwehr München, wie kann ich helfen?” Danach beginnen die klassischen W-Fragen: Wer, Wo, Was und wie viele. Dabei arbeitet der Münchner keinen vorgegebenen Fragebaum wie bei anderen Leitstellen ab, sondern kann das Gespräch freier gestalten. “Man braucht viel Bauchgefühl und Menschenkenntnis. Wir sagen den Auszubildenden immer: Hör auf deinen Bauch. Wenn du ein Zwicken bei einem Notruf hast, geh dem nach”, erläutert Demuth.

Schon beim Melden der Personen notiert der Feuerwehrmann den Namen, den Ort des Geschehens, das Einsatzstichwort und Besonderheiten im System. Die Stichworte lernt jeder Leitstellendisponent in seiner Ausbildung, sie fassen in wenigen Worten die Art des Einsatzes zusammen. Natürlich wissen die Anrufer die genaue Bezeichnung des Einsatzes nicht selbst, sodass der Disponent sie aus dem Kontext des Gesprächs erschließen muss. Die Stichwörter sind im System mit vordefinierten Alarmierungsketten verknüpft. Auch wissen mit diesen Bezeichnungen Demuths Kollegen auf dem Wagen sofort, was sie am Einsatzort erwartet und können sich vorbereiten.

Einige der schwersten Anrufe sind solche, bei denen der Leitstellendisponent den Anrufer für die Erste Hilfe anweisen muss. “Telefon-Reanimationen sind die Königsdisziplin”, führt Demuth aus. Zwar haben die Feuerwehrleute dafür erstellte Leitfäden, doch ist jeder dieser Notfälle einzigartig. Solche beschäftigen den Disponenten auch mal länger. “Da fragt man schon mal nach, ob der Patient es geschafft hat. Man freut sich natürlich ungemein, wenn man weiß, dass durch die eigenen Anweisungen ein Menschenleben gerettet wurde”, sagt Demuth.

Über eine Million Anrufe pro Jahr

“Hier beginnen die Einsätze. Nicht erst, wenn die Einsatzfahrzeuge die Halle verlassen,” erzählt Demuth stolz. “Hier sind wir am Puls der Stadt. Eigentlich geht immer was.” Ein Blick auf die Zahlen gibt ihm Recht. Täglich gehen bei der Leitstelle rund 3.000 Anrufe ein. Im vergangenen Jahr waren es insgesamt 1,1 Millionen Anrufe. Zum Oktoberfest und zu Silvester steigt die Anzahl der Anrufe pro Tag nochmals stark. Für diese fordernde Tätigkeit braucht es ein dickes Fell und eine hohe Stressresilienz. Da Demuth am Telefon tätig wird, kann er nur mit seiner Stimme arbeiten. “Man kann durch die Stimme viel steuern. Bei den Anrufen müssen wir das Gespräch übernehmen, damit möglichst schnell die richtige Hilfe dorthin kommt, wo sie gebraucht wird”, erläutert Demuth. “Manchmal braucht es Strenge, manchmal braucht es ein paar beruhigende Worte.”

Grundsätzlich habe er Verständnis für die Aufregung und die teilweise Gereiztheit am anderen Ende der Leitung. Die Anrufer befänden sich in einer Ausnahme- und Stresssituation. Statistisch gesehen setze jeder Bürger in Deutschland nur einmal in seinem Leben einen Notruf ab. Jedoch würde sich Demuth mehr Verständnis bei den Bürgern wünschen. In den vergangenen Jahren hätten die Leute einen verstärkten und ausschließlichen Selbstbezug entwickelt und würden alle anderen Umstände sowie Notlagen komplett ausblenden.

Auch er erlebt immer wieder verbale Gewalt am Telefon. Gefühlt würden die verbalen Attacken auf die Leitstellendisponenten auch mehr werden. Eine Statistik wird jedoch nicht geführt. Aber auch die Masse der Anrufe kann die Feuerwehrkräfte unter erheblichem Zeitdruck setzen. In kürzester Zeit muss der Disponent entscheiden, wo was gebraucht wird. Hinzu kämen manchmal dann auch Sprachschwierigkeiten. Bei besonderen Notrufen, zu denen er einen Bezug hat, verfolgt Demuth das Einsatzgeschehen teilweise mit und fragt bei den Einsatzkräften nach, wie der Einsatz verlaufen ist.

Aufgrund der Stresssituation und der teilweise belastenden Anrufe, wie bei größeren Schadenslagen wie Amokläufen, sei “Psychohygiene” auf der Wache besonders wichtig. Einige von Demuths Kollegen hätten auch schon Suizide am Telefon miterlebt.

Besondere Stresssituation

Einige seiner Kollegen hatten solch ein traumatisches Erlebnis und quittierten danach ihren Dienst in der Leitstelle. Andere konnten dem Zeitdruck und der Verantwortung nicht standhalten. “Vor allem bei Anfängern ist die erste Nacht alleine am Tisch besonders hart”, sagt Demuth. “Manche hören nach dieser Erfahrung mit der Tätigkeit auf.” Deshalb ist der Zusammenhalt innerhalb der Wache besonders wichtig und die Gesprächsangebote durch die Feuerwehrführung sowie die speziell ausgebildeten Kollegen sind von großer Bedeutung.

Die Branddirektion München und die Leitstellenleitung bieten auf der Wache ein Beratungssowie ein vielfältiges Ausgleichsangebot an. In der Feuerwache in Schwabing können die Männer und Frauen unter anderem auf große Aufenthaltsräume und ein vielfältiges Sportangebot in Form von Fitnessräumen und einer Turnhalle zurückgreifen. Als Personalrat und Vertreter der Deutschen Feuerwehrgewerkschaft (DFeuG) setzt Demuth sich dafür ein, dass dies auch so bleibt. Sein Arbeitgeber sei aber für diese Art der Probleme sensibilisiert und achte sehr auf die Gesundheit seiner Kräfte. Aber auch der persönliche Ausgleich ist für den 38-Jährigen besonders wichtig. Neben Motorradfahren im Münchner Umland fängt ihn seine Familie auf. Durch die 24-Stunden-Dienste kann er besonders viel Zeit mit seiner Frau und seinem Sohn verbringen. “Sonst genieße ich auch einfach mal die Ruhe und nicht jemanden im Ohr zu haben”, betont der Disponent lächelnd.

Hoher Beratungsbedarf in der Bevölkerung

Natürlich beschäftigt die Corona-Krise auch die Feuerwache 4. “In der Leitstelle bekommen wir solche Pandemien als erste mit. Das war damals auch bei der Vogelgrippe und SARS so. Die Leute hatten einen unglaublichen Beratungsbedarf, weil viele verunsichert waren”, resümiert Demuth. Während der ersten Phase der Pandemie und des Lockdowns ging zwar das Einsatzgeschehen aufgrund der verringerten Arbeitsunfälle zurück, das Aufkommen von Anrufen jedoch nicht. Zeitweise ließ sich sogar eine Erhöhung feststellen. Bevor es die Beratungstelefone der Landeshauptstadt gab, übernahmen auch die Feuerwehrfrauen und -männer in der Leitstelle diese Aufgabe. Der Disponent stellt rückblickend fest: “Die Leute hatten wirklich Angst.”

Die Menschen in München haben sich vor allem wegen Atemwegserkrankungen bei Demuth und seinen Kollegen informiert. Er habe es teilweise erlebt, dass Personen, die ihn sprachen, eine halbe Stunde später hätten intubiert werden müssen. Die Lage normalisierte nach der Beendigung des Lockdowns wieder. Doch neben der erhöhten Arbeitsbelastung machten die sinnvollen Infektionsschutzmaßnahmen dem Leistellendisponenten und seinen Kameraden zu schaffen. So wurden feste Teams zusammengestellt, die sich gegenseitig in der Zeit nicht gesehen haben. Es wurden die Ausbildung und die gemeinsamen Abende komplett ausgesetzt. Dies sei natürlich schlecht für das Sozialgefüge der Wache, die sich als eine große Familie betrachte. In der Zwischenzeit wurden die Schutzmaßnahmen gelockert und der neue Normalbetrieb wieder aufgenommen.

Demuth hat trotz allem in keinem Moment seine Entscheidung, Feuerwehrmann zu werden, bereut. “Es ist der beste Job der Welt, weil immer was los ist. Die Arbeit in der Leitstelle ist einfach das i-Tüpfelchen dabei. Ich sehe einfach beide Seiten des Geschäfts: ausrücken und alles, was dahintersteht.”

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