Mittwoch, 24. April 2024

Teilhabe für alle Kinder ermöglichen

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Inklusion braucht Geld und eine politische Haltung

Die Gründung einer Gesamtschule Eifel im Rahmen einer interkommunalen Kooperation durch die Gemeinden Blankenheim und Nettersheim war keine Liebesheirat. Stattdessen stand eine politisch pragmatische Motivation im Vordergrund. Kinder sind eben vor allem im ländlichen Raum ein rares Gut. Viele Schulen kämpfen um immer weniger Schüler*innen. Da lag es nahe, eine Schule für alle Kinder mit allen Abschlüssen zu gründen. Natürlich sollte die Schule auch ihren Beitrag für eine gute Inklusion leisten.

Inklusion ist insbesondere in Deutschland sehr umstritten. Kaum zu glauben: Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wurde bereits 2007 durch die Vereinten Nationen verabschiedet und ist im Jahre 2009 in Deutschland durch Ratifikation in Kraft getreten. Sie sorgt auch heute noch für viel Aufregung und Diskussion. Immer noch liegt die deutsche Inklusionsrate auf überschaubarem Niveau. Weiterhin geht man teilweise von der Überlegenheit von Förderschulen aus. Aber hierzu gibt es keine wissenschaftliche Begründung.

Föderschulen keine Schonräume

Im Gegenteil: Für viele Fachleute erweisen sich die Förderschulen als nachteilig auf die Persönlichkeitsentwicklung der betroffenen Kinder. Sie würden sich negativ auf deren berufliche Karrieren auswirken. Auf jeden Fall würden sie keine Schonräume darstellen. Inklusion soll die Teilhabe für alle Kinder in einer Gesellschaft sicherstellen. Gerade die Schulen sollen allen Kindern eine qualitativ hochwertige Bildung gewährleisten, und zwar unabhängig von individuellen Lernbedürfnissen, vom Geschlecht und sozialen oder ökonomischen Komponenten.

Von Anfang an hatte die Gesamtschule Eifel ein optimales inklusives System auf ihre Fahne geschrieben. Im Mittelpunkt stand stets die Frage, wie lässt sich das Postulat der Inklusion mit einem Maximum an sozialer Teilhabe und ein Minimum an Diskriminierung in der Praxis umsetzen. Natürlich haben wir festgestellt, dass eine Ganztagsschule bei dieser Heterogenität der Kinder ein neues räumliches Konzept fordert. Viele Differenzierungsräume (einer je zwei Klassenräume) sowie ein Selbstlernzentrum gehören zur räumlichen Konzeption. Selbstverständlich wurden die Schulkörper barrierefrei geplant. Aber: nur weil unsere Schule nun einen modernen Aufzug besitzt, wird sie noch längst keine inklusive Schule.

Gesamtschule keine “Resteschule”

Inklusion muss gewollt sein: von den Lehrkräften, von den Eltern und von der Politik. Im ländlichen Raum hatte die Gesamtschule schon aufgrund des gebundenen Ganztags, des unterschiedlichen Leistungsniveaus der Kinder und mancher Verhaltensauffälligkeiten einiger Schüler*innen gegenüber den Gymnasien und auch gegenüber der Realschule Imageprobleme. Vor allem die Gymnasien zeigten sich sehr zurückhaltend mit der Aufnahme von inklusiven Kindern. Dabei dürften zumindest viele autistische Kinder dem geforderten “Bildungsniveau” eines Gymnasiums gewachsen sein. Unsere Gesamtschule musste hier einiges auffangen. Leider wurde diesem besonderen Auftrag personell nur sehr unzureichend Rechnung getragen. Sehr befremdlich empfand ich, dass hinter vorgehaltener Hand die Gesamtschule als “Resteschule” bezeichnet wurde. Es ist menschenverachtend, Kinder als “Rest” zu bezeichnen, eigentlich unglaublich und dennoch traurige Realität.

Respekt vor engagierter Arbeit

Das Land NRW hat die sonderpädagogische Förderung in den allgemeinen Schulen zur Regel gemacht und entsprechende Rechtsansprüche eingeräumt. Gleichwohl sollen die Eltern weiterhin eine Förderschule für ihr Kind wählen können. Die neuen Rechtsansprüche wurden erstmalig 2014/2015 für Schüler*innen in den Klassen eins und fünf, ab 2015/2016 aufwachsend für Schüler*innen der nächsthöheren Jahrgänge zumindest theoretisch realisiert. Die Einführung des Elternwahlrechts fühlt sich auf dem ersten Blick als Schritt in die richtige Richtung an. Schlussendlich ist es dennoch die Fortsetzung des Parallelsystems, bestehend aus allgemeinen Schulen und aus Förderschulen.

Ich habe hohen Respekt davor, welch engagierte Arbeit in den Förderschulen geleistet wird. Aber rechnet sich überhaupt der hohe Personaleinsatz – im Vergleich zu den Regelschulen – gesamtstaatlich? Wir berauben uns mit der Existenz zweier getrennter Bildungssysteme (Förderschulen neben inklusiven Regelschulen) eines effektiven Personaleinsatzes in ein funktionierendes, qualitativ hochwertiges inklusives Bildungssystem. Der vergleichsweise hohe personelle Ressourceneinsatz in den Förderschulen führt dazu, dass diese Kräfte in den Regelschulen letztlich fehlen. Nach meinem Eindruck sind die Aktivitäten der bisherigen NRW-Landesregierungen nicht ausreichend, wenn es darum geht, Inklusion in den Regelschulen zu sichern. Mit voller Inbrunst geht man dieses Thema jedenfalls nicht an.

Fluch der Konnexitätsrelevanz

Auf der anderen Seite steht der Art 24 Abs.2 der UN-BRK, wonach es den Mitgliedsstaaten verboten ist, behinderte Kinder vom allgemeinen Bildungssystem auszuschließen. Sie haben die Pflicht, ihnen den Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen Unterricht zu gewähren. Zugang und Teilhabe am regulären Schulsystem müssen diskriminierungsfrei sein. Dies ist ein gesetzliches Muss.

Ein wesentliches Merkmal einer inklusiven Schule ist die Barrierefreiheit. Diese betrifft nicht nur bauliche Barrieren für mobilitätsbehinderte Menschen. Viele weitere Gestaltungselemente für sinnesbehinderte Kinder gehören dazu, um eine möglichst gleichberechtigte Teilhabe an der Schule zu ermöglichen. Was bei der Gesamtschule Eifel aufgrund der hohen Städtebauförderung gut gelang, ist dagegen bei vielen anderen Schulen mangels Finanzierung keinesfalls verwirklicht. Bezeichnend ist, dass das Land NRW zu den baulichen Voraussetzungen keine verbindlichen Regeln geschaffen hat. Es fürchtet die Konnexitätsrelevanz wie die Pest. Denn: “Wer bestellt, der bezahlt”. Indem das Land nicht bestellt, muss es eben auch nicht zahlen. Bund und Länder haben bisher Erwartungen geweckt und Ziele vorgegeben, ohne gleichzeitig die erforderlichen Finanzmittel bereitzustellen. Vor Ort stehen und standen die Kommunen unter erheblichen Handlungsdruck. Es galt, sofort – ohne Abwarten der erforderlichen schulgesetzlichen Weichenstellungen – ihre Schulen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung zu öffnen.

Abkehr von Inklusion nach Kassenlage

Unakzeptabel erscheint es, wenn Landesgesetze bei der Umsetzung der UN-BRK im Schulwesen den Konnexitätsgrundsatz ignorieren und die Kommunen nur unzureichend finanziell ausstatten. Die herzustellende räumliche Barrierefreiheit ist aber nur ein Gesichtspunkt der inklusiven Schule. Mindestens genauso wichtig sind die Bereitstellung der erforderlichen personellen Ressourcen und das Erstellen entsprechender pädagogischer Konzepte und inklusiver Lehrpläne; und das ist auf jeden Fall Länderaufgabe. Das Parallelsystem verhindert die ausreichend personelle Konstante für die inklusive Regelschule. Es mangelt auch an der notwendigen Aus- und Fortbildung. Viele Lehrende haben deshalb verständlicherweise durchaus ausbaufähige Kenntnisse zum Umgang mit Heterogenität und bezüglich der Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams. Gerade deshalb leidet die Entwicklung einer konstruktiven Haltung der Schulgemeinschaft zu einer inklusiven Schulkultur.

Es bedarf einer Abkehr von einer Inklusion nach Kassenlage. Es braucht eine Implementierung der inklusiven Schule durch ein proaktives Bekenntnis des Staates zur Inklusion. Gleichzeitig muss er sich vom System “Förderschulen” konsequent verabschieden. Dafür müssen die Länder endlich ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Art. 24 der UN-BRK nachkommen. Das bisherige halbherzige Agieren geht zu Lasten der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung. Diese bleiben letztlich auf der Strecke. Dies ist aus menschenrechtlicher Perspektive nicht hinnehmbar.

Rolf Hartmann war von 2004 bis Ende Oktober 2020 Bürgermeister der Gemeinde Blankenheim.

(Foto: Privat)

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