Freitag, 29. März 2024

Von 100 auf Null – und zurück?

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Da haben wir doch alle im Sommer gedacht, die Pandemie wäre nur noch abzuarbeiten und es gäbe keinen Grund mehr, die Hochschulen noch geschlossen oder bedeckt zu halten – auch diesmal scheinen wir uns wiederum alle geirrt zu haben. Schnell wurde auch die Erklärung der Hochschulrektorenkonferenz vergessen, man könnte ca. 30 % der Lehrveranstaltung im laufenden Wintersemester wieder in Präsenzform durchführen lassen. Nein, in vielen Hochschulen ging man sofort auf´s Ganze und ordnete 100% Präsenz an. So wurde in manchen Bundesländern sogar auch hochministeriell verfügt, dass in Hochschulen alle Lehrveranstaltungen (möglichst ohne Ausnahmen) wieder in Präsenz stattfinden sollen.

Nach der „Vollbremsung“ im März 2020 von 100 auf Null, nun also umgekehrt von Null auf 100? Das heißt: Von der Präsenzlehre in die Video-Konferenz und nun zurück in die Präsenzlehre? Das ist an vielen Hochschulen nun der Fall – den meisten zur großen Freude, den anderen zum Leidwesen aufgrund der immer noch nicht vorhersehbaren Situation und Gefährdung. 

Ein anderer Grund für die komplette Öffnung war zum Teil nachvollziehbar. Man wollte sicherlich seitens der Hochschulleitungen ein Signal gegen die wahrgenommene „Lethargie“ im Kolleg*innen- und Studierendenkreis setzen und mit entsprechenden „Disziplinierungsmaßnahmen“ entgegenwirken. Das damit häufig verbundene Verbot von digitaler Distanzlehre kann natürlich keine Basis für die Entwicklung einer modernen, digital gestützten Lehre nach Corona sein.

Die Hochschulen für den öffentlichen Dienst sind immer von etwas anderen Voraussetzungen ausgegangen. Ihr Präsenzanteil war schon Anfang 2021 aufgrund der teils geringen Studierendenzahl insgesamt, vielen „Klassenverbünden“ und viel höheren Anteilen von Praktika und Trainings (z.B. bei der Polizei) viel höher und lag dort schon bei ca. 50 %. Und die Hochschulen haben schon sehr früh ganz eigene, praktikable Lösungen gefunden.

Aktuell haben wir den „paradiesischen“ Zustand einer Inzidenz von unter 10 längst im Sommer verlassen und befinden uns nun auf einem bislang noch nicht gekannten Niveau von weit über 200. Niemand weiß, wie dramatisch sich die gesamte Lage in Deutschland weiterentwickelt und ob die Hochschulen als „idealer Ort der Virusweitergabe“ weiter geöffnet bleiben können.

Und die teils guten Erfahrungen mit der digitalen Lehre? Wird jetzt alles über Bord geworfen? In dem aktuellen RKHöD-Monitor von Oktober 2021 (einer im Dreimonatsrhythmus erfolgten Erhebung) war ein wichtiges Ergebnis, dass keine Hochschule auf die digitalen Elemente in der Lehre für die Zukunft verzichten wolle. Und fast jede dritte Hochschule unterstreicht, dass die digitalen Elemente in Zukunft eine wichtige bis sehr wichtige Rolle spielen werden.

Eine systematische und strukturierte Bilanzierung der Corona-Pandemie steht an den HöD genauso aus, wie an anderen Hochschulen auch. Gleiches gilt für die Diskussion, wie eine zukünftige Lehre im Sinne des Blended-Learnings angesichts dieser bundesweit einmaligen Reallabor-Situation „Corona-Pandemie“ aussehen könnte.

Wenn diese Diskussion auf der Basis aktueller und neuer Herausforderungen in einem für die Wissenschaft gewohnten konstruktiv-kritischen Rahmen geführt wird, darf man in Zukunft wohl recht positiv gestimmt sein, dass diese Erfahrungen und die vielseitigen Anstrengungen in der Pandemie doch nicht vergebens gewesen sind. Und vielleicht gelingt ja auch noch die angesprochene systematische Bilanzierung nach der „Disziplinierungsphase“. ???? Es wäre mehr als wünschenswert.

Prof. Dr. Jürgen Stember ist Präsident der Rektorenkonferenz der Hochschulen für den öffentlichen Dienst.

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