Donnerstag, 25. April 2024

Hier ist nichts einfach

Resilienz - Prävention und Reaktion

Must read

Sie können sich nicht vorstellen, wie überrascht ich war, als ich für einen Beitrag für Future4Public angefragt wurde. Als Freiberufler habe ich viele Jahre mit Trägern der öffentlichen Jugendhilfe, Schulen und anderen Institutionen kooperiert. Zum Innenleben von Verwaltung kann ich reichlich wenig beitragen.

Gleichzeitig stellte sich mir die Frage: Können 6000 Zeichen über „Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“ dem Thema gerecht werden?

Kurz: Nein. Daher kann ein solcher Artikel weder der Komplexität der Folgen für Betroffene, der Interventionsplanung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, der Verzahnung von Ermittlungsverfahren mit Kinderschutzverfahren, den impliziten Fragen nach Datenschutz, den Orientierungsbedarf von haupt- und ehrenamtlichen Fachkräften, die mit Minderjährigen arbeiten, dem Beratungsbedarf von Eltern, noch den Bedarfen an Rückfallprävention, Risikoeinschätzungen oder weiteren Themen gerecht werden.

Wenn Sie nun den Eindruck haben „huch, das ist aber komplex“, dann hätte ich mein Ziel für diesen Artikel schon erreicht. Möchte ich Sie so zurücklassen? Nein.

Was ist aber hilfreich?

Gerd Gigerenzer hat Entscheidungsheuristiken erforscht. Er ist der Frage nachgegangen, nach welchen Faustformeln wir „gute“ Entscheidungen treffen. Er kam zu der Erkenntnis, dass Menschen, mit viel Erfahrung in ihrer Arbeit Faustformeln ausbilden, die sich wieder als „Bauchgefühl“ – mehr oder weniger bewusst – bemerkbar machen. Polizisten kennen dies als „kriminalistischer Instinkt“, Jugendamtsmitarbeiterinnen als „komisches Bauchgefühl“ oder Sie bemerken es im Privaten als flüchtigen Gedanken, wie „hier stimmt doch was nicht“.

Ich möchte Ihnen (meine) Faustformeln zum Thema anbieten. Jede Faustformel könnte Bücher füllen – und macht es auch. Bitte verstehen sie es als „grundsätzlich“. Es gibt also zu jeder Aussage Ausnahmen, Grenzfälle, Unschärfen, Polarisierungen und vieles mehr. Nehmen Sie das für sich gerne heraus, was Ihnen in der Unübersichtlichkeit von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche einen Anker bietet.

An sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist nichts einfach.

Es gibt keinen Fall, der dem anderen gleicht, der im Verlauf eine gleiche Dynamik annimmt. Jeder Vorfall bedarf einer intensiven, multiprofessionellen Betrachtung, wenn wir Kinder und Jugendliche schützen wollen.

Prävention ist eine Haltung – keine Veranstaltung

Veranstaltungen zur Prävention sexualisierter Gewalt können einen Anlass bieten, Themen zu setzen und anzusprechen, die präventiv wirken können. Letztlich brauchen Betroffene Menschen, die ihnen glauben und denen sie sich anvertrauen können.

Es gibt einen Unterschied von Grundsätzen der Strafverfolgung und denen des Kinder- und Jugendschutzes.

Strafverfolgung ist darauf „angewiesen“, dass bereits etwas Strafbares geschehen ist und es dafür Beweise gibt. Diese können in der Gesamtbewertung zu einer Verurteilung führen. Sie ist vom Prinzip also auf die Vergangenheit gerichtet. Kinder- und Jugendschutz schauen auf die Zukunft: Es geht um die Frage, was es braucht, um in der Zukunft Schaden abzuwenden. Häufig werden Grundsätze der Strafverfahren (z.B. StPO) auf die Sozialgesetzgebung (z.B. SGB VIII) angewendet. „Im Zweifel für den Angeklagten“ – In Kinderschutzverfahren gibt es keinen Angeklagten! Die Frage lautet „Wie stellen wir den Schutz von Kindern und Jugendlichen sicher?“

Betroffenenschutz und -versorgung geht vor

Wenn der Schutz und die Versorgung von Betroffenen nicht gewährleistet sind, kann und sollte es keine Angebote für Personen geben, die sexuelle Grenzen verletzen. „White-Washing“, also das Wahrnehmen von Beratungsangeboten von Personen – die sich entscheiden sexualisierte Gewalt einzusetzen – um wieder Zugang zu potenziellen Opfern zu bekommen, kann nicht Aufgabe dieser (wenigen) Beratungsangebote sein.

Keine Verteilungskämpfe um Gelder zum Nachteil von Betroffenen (-Versorgung)

Es ist zu begrüßen, dass es ein zunehmendes Bewusstsein für Betroffene von sexualisierter Gewalt gibt. Dies verdanken wir den Betroffenen selbst, die Situationen ihrer Vergangenheit der Öffentlichkeit oder Einzelpersonen mitteilen.

Betroffene haben nicht über die Uhrzeit, den Ort, die Person, nicht über die Art der sexuellen Gewalt entschieden. Angebote, diese Menschen psychosozial zu versorgen, dürfen nicht dadurch eingeschränkt werden, dass es einen „großen Fördertopf“ für den gesamten Hilfebereich gibt. Also auch für Personen, die über den Ort, die Person, die Art der sexualisierten Gewalt, die Häufigkeit entscheiden und entschieden haben. Ja, Jugendliche, die sich sexuell grenzverletzend verhalten, brauchen Angebote, um die Wahrscheinlichkeit von Rückfällen zu verringern. Aber: nicht auf Kosten der Betroffenenversorgung. Hier braucht es eigene Ansätze.

Neben großen fachlichen Unterschieden, die beide Arbeitsbereiche mit sich bringen, wäre es grob fahrlässig/bedingt vorsätzlich, Betroffene weniger zu versorgen!

Niemand kann allein Kinder/Jugendliche schützen

Die Zusammenarbeit von Jugendämtern, Polizei (Repression, Prävention/Opferschutz), spezialisierten Fachberatungsstellen, Schulen, subsidiären Trägern der Jugendhilfe, Vereinen, Verbänden, usw. ist unabdingbar. Jede Person hat Möglichkeiten und Begrenzungen in diesem Feld. Jugendamt hat andere Kompetenzen als Polizei, Arbeitgeber andere als Therapeuten, spezialisierte Beratungsstellen andere als Schule, und und und.

Erst im Zusammenspiel können die Möglichkeiten der einen Person die Grenzen der anderen Person ausgleichen. Ja, es gibt Grenzen. Aber mit dem gemeinsamen Ziel, Kinder und Jugendliche zu schützen und alles im Rahmen der Grenzen zu ermöglichen, können Netzwerke mehr als jede*r Einzelne. Ist Netzwerkarbeit aufwändig? Ja. Gibt es eine Alternative? Nein.

Fazit

Wenn an sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nichts einfach ist, kann es auch keine einfachen Lösungen geben. Aber wenn Prävention eine Haltung ist, kann jede*r in seinem privaten und beruflichen Umfeld einen Teil dazu beitragen.


Thorn Leonhardt hat einen Masterabschluss in Laws/Kriminalistik mit dem Schwerpunkt Sexualdelikte (CIFoS) und einen Bachelorabschluss in Psychologie und Erziehungswissenschaften. Außerdem ist er ASAT®- und ASAT®-Jugend-Trainer (ZKPF) – Kriminaltherapeutisches Training zur Rückfallprävention bei sexuellen Übergriffen, Präventionsmanager Gewaltbereite Jugendliche (IPBm), Opfergerechte Täterarbeit (DGfPI) und Systemischer Coach (IBC).

- Werbung -

More articles

Latest article