Mittwoch, 24. April 2024

Gesundheit aus dem Kiosk? In Hamburg weiß man – das geht!

Von Vorsorge bis Versorgung

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“Gesundheit ist eine der wichtigsten sozialen Fragen des 21. Jahrhunderts.” stellt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach fest, als er Ende August 2022 in Hamburg die Eckpunkte des Gesetzesentwurfes für ein neues Beratungsangebot vorstellt: 1000 Gesundheitskioske sollen in ganz Deutschland entstehen. Der Prototyp dafür steht im Hamburger Stadtteil Billstedt. Ein Einblick in den Alltag des ersten Gesundheitskiosks Deutschlands.

Punkt 09:30 öffnen sich die Türen der Ladenfläche des Hamburger Gesundheitskiosk, direkt am Billstedter Marktplatz. Drinnen am Empfangstresen werden erste Anrufe entgegengenommen, eine Mitarbeiterin druckt noch ein Schaubild für eine anstehende Beratung aus: Risiken von hohem Blutdruck. Pegah Rezaie bereitet sich auf die Folgeberatung von Frau K. vor. Die ältere Patientin spricht hauptsächlich Farsi und hat wie Frau Rezaie Wurzeln im Iran. Ihre Hausärztin hatte sie mit der Diagnose Diabetes und Hypertonie an den Gesundheitskiosk überwiesen. Hier soll sie nun lernen mit ihrer Krankheit besser umzugehen. In der Beratung beginnt Frau Rezaie ganz grundlegend, erklärt in Muttersprache die anatomischen Zusammenhänge und wie sie den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen kann. Am Ende des Termins vereinbaren sie erste Ziele bis zur nächsten Beratung: täglich drei regelmäßige Mahlzeiten ohne Snacks, mindestens 1,5l Wasser – damit der Blutzucker stabil bleibt.

Anmeldung im Gesundheitskiosk (Foto: Ralf Gellert)

Seit 2017 haben die Billstedter*innen mit dem Gesundheitskiosk eine Anlaufstelle für alle Fragen zu ihrer Gesundheit –möglichst niedrigschwellig, individuell und ganzheitlich. Gegründet wurde der Kiosk von der Betreibergesellschaft Gesundheit für Billstedt/Horn UG (GfBH) in Kooperation mit den niedergelassenen Ärzt*innen als Reaktion auf die hohe Krankheitslast in Billstedt bei gleichzeitig herausfordernder Versorgungssituation. Über die Jahre kamen die Standorte in Horn und Mümmelmannsberg dazu, insgesamt werden mehr als 6700 Versicherte versorgt.

Eingebettet in ein Netz aus über 100 Patner*innen (Ärzt*innen, Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern, sozialen Einrichtungen uvm.), bildet der Gesundheitskiosk das Herzstück des neuen Versorgungsmodells. Hier arbeitet hochqualifiziertes, erfahrenes Pflegefachpersonal, z.B. nach dem Berufsbild der Advanced Practice Nurse, das die Patient*innen kultursensibel und mittlerweile in sieben Sprachen beraten kann. Die Mitarbeiter*innen können sich Zeit für die individuellen gesundheitlichen Anliegen nehmen, gemeinsam mit ihren Patient*innen Lösungen entwickeln und den Weg langfristig begleiten.

„Meine ganze Arbeit fußt auf Vertrauen“, erklärt Pegah Rezaie, nachdem sie Frau K. verabschiedet hat. „Wir bewerten die Menschen nicht, sondern sehen ihren ganzen Hintergrund und verstehen, wie es so weit gekommen ist.“ In der Erstberatung von Frau K. hatte Frau Rezaie die Krankheitsgeschichte ihrer Patientin erfasst: Stress, Schlaganfall, hohe Leber- und Zuckerwerte und schließlich Diabetes und Hypertonie. Erst in einer Folgeberatung vertraute Frau K. der studierten Pflegefachkraft an, dass sie auf der Flucht nach Deutschland in kurzer Zeit mehrere Familienmitglieder verloren hatte und die Trauer ihren Alltag massiv einschränke. Nun hilft Frau Rezaie ihr, einen Therapieplatz zu finden. „Durch unseren offenen und kultursensiblen Umgang bei den Beratungen werden Barrieren und Ängste auch gegenüber dem Gesundheitssystem abgebaut“, erläutert Rezaie. Der Gesundheitskiosk bietet Orientierung und lenkt durch die vielfältigen Angebote im Sozialraum. Regelmäßig meldet Frau Rezaie der behandelnden Ärztin die Fortschritte von Frau K. zurück, neben quartalsweisen Fallbesprechungen ein weiterer Baustein der besonderen Kooperation zwischen Gesundheitskiosk und Ärztenetz – dem sogenannten Arzt-Pflege Tandem. Nachmittags starten im Seminarraum des Gesundheitskiosks die Bewegungskurse. Bei „Fit im Alter“ nimmt Frau K. inzwischen regelmäßig teil und ist seitdem wieder mobiler, und hat darüber hinaus im Kurs auch neue Freundschaften geschlossen.

Die Stadtteile Billstedt und Horn stehen exemplarisch für viele großstädtische Regionen überall in Deutschland. Dass in diesen strukturell schwachen Gebieten die Versorgungssituation dringend optimiert werden muss, wird auch vom Bundesgesundheitsministerium forciert. Die Gesetzesinitiative zur tausendfachen bundesweiten Ausweitung der Gesundheitskioske stieß allerdings nicht nur auf Zuspruch. Die Ersatzkassen (DAK-G, BARMER, Techniker Krankenkasse) stiegen zum Jahreswechsel aus der Finanzierung des Hamburger Modellprojektes aus – der Betrieb sei zu teuer und es entstünde eine Doppelstruktur. Für die GfBH nicht nachvollziehbare Argumente. „Wenn wir uns bei Präventionsleistungen die langen Zeiträume angucken würden, dann würden wir erkennen, dass wir gar nichts dafür bezahlen, sondern dass wir als Gesellschaft profitieren, auch auf der Kostenseite“, erklärt der Geschäftsführer Alexander Fischer. Der Ausstieg zieht schwerwiegende Folgen mit sich: Seit Januar können nur noch Versicherte der AOK Rheinland/Hamburg und der Mobil Krankenkasse die Angebote im Gesundheitskiosk wahrnehmen.

In Hamburg macht man trotz des Dämpfers durch den Ausstieg der drei Kassen weiter. Gemeinsam mit den verbliebenden finanzierenden Kassen plant die GfBH die Eröffnung eines weiteren Standorts im Hamburger Stadtteil Steilshoop Ende April. Dass die Idee der Gesundheitskioske mit dem angekündigten Gesetz national einen rechtlichen Rahmen und eine Finanzierungsgrundlage erfährt, freut Herrn Fischer sehr. Für die Überführung in die Regelversorgung empfiehlt er die Übernahme der erprobten Qualitäts- und Erfolgskriterien aus der Erfahrung in Billstedt. Dann könnten endlich noch mehr Menschen – unabhängig von der Krankenkassenzugehörigkeit – die Angebote der Gesundheitskioske nach dem Hamburger Vorbild wahrnehmen.


Clara Hirsch

Clara Hirsch ist Werkstudentin im Projektmanagement bei der GfBH und schreibt nebenbei ihre Bachelor-Thesis im Studiengang Kultur der Metropole.

Irena Geibel

Irena Geibel ist Gesundheitswissenschaftlerin und hat das Versorgungsmodell bei der GfBH von Beginn an mit aufgebaut, aktuell verantwortet sie das Projektmanagement der GfBH.

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