Nach sechs Jahren in einer chirurgischen Klinik und zwei Jahren im Altenpflegeheim sowie drei Jahren als Stationsleitung einer onkologischen Station haben wir beschlossen Kittel und Kasack an den Haken zu hängen und eine große, aber notwendige Mission anzugehen: Die Revolution des Gesundheitssystems.
Der Personalmangel und die Arbeitsüberlastung, die wir am eigenen Leib gespürt haben, sind nicht vom Himmel gefallen. Die nicht mehr ausreichende Zeit, um unseren älter werdenden Patient*innen ihre komplexen Erkrankungen zu erläutern oder sie ausführlich zu motivieren und zu mobilisieren, ist eine Folge von politischen Entscheidungen im Gesundheitssystem.
Seit Jahrzehnten wurde das Gesundheitssystem aus einer vermeidlichen Angst der Kostenexplosion ökonomisiert. Im Gesundheitssystem wurden gezielt unter anderem durch die sogenannten DRGs (Diagnosis related Groups) – das pauschalisierende Abrechnungssystem, mit dem stationäre Krankenhausfälle vergütet werden – oder durch Fallpauschalen marktwirtschaftliche Anreize eingeführt, die eine Fehlentwicklung möglich gemacht haben.
In unserer Zeit als Ärztin und Krankenpflegefachkraft haben wir etliche Situationen erlebt, die zeigen, wie sich die Wirtschaftlichkeit mehr und mehr vor die Gesundheit der Menschen geschoben hat. Patient*innen wurden stationär aufgenommen, weil dies mehr Erlös bringt, obwohl es medizinisch nicht notwendig war. Sinnvolle Verlegungen in andere Abteilungen oder Krankenhäuser wurden verhindert, um den Fallerlös nicht zu verlieren. Privatpatient*innen haben nicht nur schneller Termine, Einzelzimmer, eine ausführlichere Visite und Chefarztbehandlung erhalten, sondern auch unnötige Eingriffe, längere stationäre Aufenthalte und angedichtete Diagnosen, damit mehr Erlös erwirtschaftet wird.
Diese marktwirtschaftlichen (Fehl-)Anreize gemeinsam mit einer staatlichen Unterfinanzierung führten dazu, dass die Krankenhäuser sparen mussten und in der Folge Personal abbauten.
Nun hat der Gesundheitsminister Prof. Lauterbach einige Reformen auf den Weg gebracht und viele weitere in der Pipeline. Die von ihm angekündigte „Revolution“ bleibt, unserer Einschätzung nach, allerdings trotzdem aus.
Das liegt unter anderem auch an der Komplexität des Gesundheitssystems. Von den (vielen!) Krankenkassen, über die Organe der Selbstverwaltung (Kassenärztliche Vereinigung, Kammern, Gemeinsamer Bundesausschuss) und Berufsverbände bis hin zu Instituten wie dem Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus und dem unabhängigen Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, gibt es dutzende Akteur*innen, die alle ihre Interessen vertreten und bei Reformen mitreden.
Die Gefahr bei einem so komplexen System ist seine Trägheit und Selbsterhaltung. Innovative Versorgungsformen und progressive Ideen kommen meist nur als regionale oder zeitlich begrenzte Projekte vor. Die nötige Revolution bleibt so aus. Parallel steigen immer mehr Kolleg*innen aus der Arbeit mit Patient*innen aus und das System droht zu kollabieren.
Für ein resilientes Gesundheitssystem, in dem alle gerne arbeiten und die Patient*innen nur nach dem Aspekt der Gesundheit behandelt werden, müssen die vielen Akteur*innen – auch die Behörden – Mut zur Veränderung haben, neue Ideen zulassen und sich von alten Strukturen verabschieden. Schließlich geht es um unser wichtigstes Gut, das ansonsten gefährdet ist, unsere Gesundheit.
Stefanie Minkley und Xenia Ebner-Pühl haben gemeinsam die Initiative „Aufbruch Gesund & Gerecht – für eine echte Revolution im Gesundheitssystem“ gegründet. Gemeinsam mit vielen Engagierten und Verbänden haben sie sieben Forderungen aufgestellt, wie unser Gesundheitssystem revolutioniert werden muss.
Diese reichen von der Abschaffung der Fallpauschalen über die Einführung von Personalschlüsseln hin zu einem Umbau des Gesundheitswesens zu einem intersektoralen System, in dem alle Berufsgruppen miteinander statt gegeneinander zum Wohle der Patient*innen arbeiten können. Gesundheit soll in allen politischen Bereichen eine entscheidende Rolle spielen („Health in all Policies“) und die Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention einen viel höheren Stellenwert erlangen.
Mehr Informationen, alle Forderungen und weitere Aktivitäten der Initiative auf www.aufbruch-gesund-gerecht.de.
Stefanie Minkley ist Fachärztin für Allgemeine Chirurgie und studiert aktuell Global Health (M. Sc.). Sie arbeitet aktuell in zwei Arztpraxen und ist für die Liste der demokratischen Ärzt*innen Delegierte in der Landesärztekammer Hessen. Sie ist u.a. die Vorsitzende der südhessischen Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokrat*innen im Gesundheitswesen.
Xenia Ebner-Pühl ist Gesundheits- und Krankenpflegerin und studiert den Bachelor of Arts Management Pflege und Gesundheit. Sie ist Beisitzerin im Bezirksvorstand der Jusos und stellvertretende Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokrat*innen im Gesundheitswesen Hessen-Süd.