Mittwoch, 11. Dezember 2024

Vielfalt eine Chance geben – mit anonymisierten Bewerbungen

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Von KIVIs, KIWIs und KIKIs

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Studien haben es wiederholt gezeigt: Wenn du Ahmed heißt, dann musst du in Deutschland deutlich mehr Bewerbungen schreiben als mit dem Namen Schmidt – und das bei genau gleicher Qualifikation. Das liegt nicht daran, dass Personaler*innen gezielt diskriminieren würden. Das tun sie in der Regel nicht, weder in der ersten noch in der zweiten Runde. Aber: unbewusste Vorurteile sorgen dafür, dass Bewerbende aussortiert werden. Und die haben dann keine Chance, sich im Bewerbungsgespräch zu präsentieren.

Etwa ein Viertel der Diskriminierungserfahrungen im Arbeitsleben werden während der Arbeitssuche und Bewerbung gemacht. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbietet jedoch Diskriminierung auf allen Ebenen des Arbeitslebens, d. h. im Arbeitsalltag, beim beruflichen Aufstieg und bei der Einstellung. Das klassische, deutsche Bewerbungsverfahren macht es insbesondere Menschen mit zugeschriebener Migrationsgeschichte und Frauen besonders schwer, zum Zug zu kommen.

Die Gründe für Benachteiligungen von Bewerber*innen sind vielfältig. Ungleichbehandlungen resultieren häufig aus stereotypen Zuschreibungen („unconscious bias“) oder der Bevorzugung der eigenen Bezugsgruppe. Ferner folgen sie aus Erwartungen und Risikoeinschätzungen, die zum Teil ebenfalls auf Vorbehalten basieren – z. B. kann ein Personalverantwortlicher befürchten, dass ein Mitarbeiter mit einem arabisch klingenden Namen von Kund*innen nicht akzeptiert wird. Personalverantwortliche benachteiligten nach den Ergebnissen der Feldforschung der vergangenen Jahre Bewerber*innen allerdings nur recht selten direkt und unmittelbar, beispielsweise im Bewerbungsgespräch oder in Form einer offen diskriminierenden Absage. Dies wird nicht zuletzt auf die zunehmende Professionalisierung der Personalverantwortlichen und auf die Wirksamkeit gesetzlicher Maßnahmen wie dem AGG zurückgeführt. Weitaus häufiger genannt werden hingegen Diskriminierungsrisiken durch sogenannte Statistische Diskriminierung. Aufgrund der Tatsache, dass es zum Beispiel durch angenommene sprachliche Defizite zu Produktivitätsunterschieden zwischen verschiedenen Gruppen kommen könnte, Personalverantwortliche vorab aber nicht wissen können, wie produktiv ein*e (potenzielle*r) Mitarbeiter*in sein wird, entscheiden sie möglicherweise anhand soziodemografischer Merkmale, ob jemand eingestellt, befördert oder entlassen wird. Vor allem Frauen und Migrant*innen sind von statistischen Diskriminierungen in besonderem Maß betroffen.

Wenn Menschen aber erleben, dass sie viermal so viele Bewerbungen schreiben müssen, dann ist das für Bewerbende ein Schlag ins Gesicht – und für Unternehmen ein Problem, weil Bewerbende demotiviert und diskriminiert werden. Dabei gibt es ein einfaches Mittel, um gegen Vorurteile im Bewerbungsverfahren umzugehen: Anonymisierte Bewerbungsverfahren. Die erhöhen nachweislich die Chancen für Frauen und für Migrant*innen auf eine Einladung zum Vorstellungsgespräch. Und da wir wissen, dass direkte Diskriminierungen nur sehr selten auftreten, vergrößert diese Eintrittskarte zum Bewerbungsgespräch auch massiv die Chancen, später eingestellt zu werden.

Anonymisierte Bewerbungsverfahren sind leicht umsetzbar. Das haben ein großes Pilotprojekt der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, aber auch mehrere weitere Projekte auf Landesebene in den vergangenen Jahren gezeigt. In anonymisierten Bewerbungsverfahren beantworten Bewerbende in einem Online-Formular Fragen zu ihrer Qualifikation und Ausbildung, aber auch zu ihrer Motivation. Fotos sowie persönliche Daten zum Alter, Geschlecht, Familienstand oder Herkunft werden nicht erhoben. Die Einladung zum Vorstellungsgespräch bzw. Eignungstest erfolgt dann ausschließlich aufgrund der Angaben zur Qualifikation und Motivation. Die vollständigen Bewerbungsunterlagen erhalten die Personalverantwortlichen nach erfolgter Auswahl als Vorbereitung für die persönlichen Gespräche.

Anonymisierte Bewerbungsverfahren erhöhen nachweislich die Qualität der Bewerbungen. Sie lassen zielgenaue Abfragen zur Motivation und zur Qualifikation zu. Und sie machen es vielen Menschen überhaupt erst möglich, im Bewerbungsgespräch mit ihrer Persönlichkeit zu punkten.

Es gibt zunehmend Arbeitgeber, die das erkennen – so stellt die Berliner Verwaltung perspektivisch auf anonymisierte Verfahren um, auch viele weitere öffentliche Arbeitgeber wie Kommunen und Landkreise setzen auf das Verfahren. Die private Wirtschaft ist hier leider noch nicht so weit, auch wenn einige Unternehmen wie Siemens immerhin auf Fotos verzichten. International ist das längst üblich, private Informationen haben hier zu Recht nichts zu suchen, denn mit der Qualifikation haben sie rein gar nichts zu tun.

Es ist an der Zeit, auch bei Bewerbungsverfahren endlich in der Gegenwart anzukommen, die längst von einer vielfältigen Gesellschaft geprägt ist. Eine solche Gesellschaft braucht faire Chancen – für alle.

Sebastian Bickerich ist Sprecher der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Vorher arbeitete er im Bundespräsidialamt und war Redakteur beim Berliner „Tagesspiegel“.

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