Freitag, 29. März 2024

Neue Modelle der Quartiersentwicklung: Altenburg

Heimat gestalten

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Widerstandskraft durch die Ko-Entwicklung von urbanem Raum und Gesellschaft

Altenburg. Das ist eine Kleinstadt in Ostthüringen – mit all den Herausforderungen, die eine Kleinstadt im Osten der Republik vermeintlich hat: Leerstand, Wegzug von vor allem jungen Menschen, Überalterung, Perspektivlosigkeit und 30 Prozent „alternative“ Wähler*innen. Besonders schwierig ist der pessimistische öffentliche Diskurs.

Wir, die Stadtmenschen, haben als Initiative diese Herausforderung angenommen und machen die Bürger*innen selbst zum zentralen Akteur des Wandels. Das Ziel unserer Arbeit ist es, das Bewusstsein einer zivilen Verantwortung für gemeinsames Stadtmachen – und als Folge davon auch soziale und räumliche Strukturen – zu verändern. Wir wollen nicht weniger als die Stadtgesellschaft verändern – und somit auch die Stadt selbst. Denn eine gestärkte und entwickelte Stadtgesellschaft – so unser Credo – gestaltet individuell und kollektiv Raum und schafft in ihrem Ergebnis die Identität oder auch Eigenart(en) einer Stadt. So kann die Stadt organisch mit den Projekten ihrer Bewohner*innen wachsen. Diese „Ko-Entwicklung“ von Gesellschaft und Stadtraum setzt Kräfte frei: Widerstandskräfte.

Gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung funktioniert für uns über eine maximale, bedingungslose – im Sinne von nicht an ein bestimmtes Amt oder eine Expertise gebundene – Teilhabe der Bewohnerschaft an stadtgestalterischen Prozessen. Aber Menschen und ihre Ideen sind divers. Wir gestalten also gemeinsam diversen Raum, in dem Engagierte die Möglichkeit haben, ihr kreatives Potenzial zu entfalten, Ideen auszutesten, zusammenzuarbeiten und Ressourcen zu teilen. Die Ertüchtigung solcher (Frei-)Räume stand von Anfang an in besonderem Maße im Fokus. Sie sind Mittel zum Zweck einer gemeinsam gestalteten Stadt und prägen heute das Quartier als dezentral organisierte und verwaltete Orte der Stadtmacher*innen. Wir nennen sie „Quartiersanker“ und meinen damit Punkte, an denen sich Menschen gemeinschaftlich auf- und auch festhalten können. Sie wurden mit derselben Vision geschaffen, sind aber völlig verschieden in ihrer Beschaffenheit und existieren gemeinsam, aber unabhängig voneinander in individuellen Trägerschaften. Gerade deshalb sind sie besonders nachhaltig und resilient.

Das „offene Labor“ am Markt ist beispielsweise solch ein Quartiersanker: zentral gelegen und vielfältig nutzbar als Kunst- und Kreativwerkstatt, Co-Working-Space, Konferenz- und Netzwerkraum. Multifunktionalität spielt vor allem in Kleinstädten wie Altenburg eine entscheidende Rolle. Denn damit können Gemeinschaftsräume für Netzwerke überhaupt erst offengehalten und nachhaltig betrieben werden.

Ursprünglich planten wir vier Quartiersanker. Durch die Impulse des Stadtmensch-Netzwerks entstehen jedoch weitere (Frei)-Räume in Altenburg. Experimentierräume wie der „Kulturspäti“, den junge Erwachsene als einen Mitgliederladen mit fair produzierten, regionalen Waren und alternativen Jugendtreffpunkt betreiben, sind wichtige Aneignungsräume für junge Macher*innen. Das schafft Perspektiven und wichtige Eigenarten für die Stadt.

Solche Eigenarten finden sich auch in den neu gedachten Gemeinschaftsgärten. Mit dem Kunstgarten, dem Historischem Laubengarten und weiteren Themengärten sind in über Jahre leerstehenden Kleingartenparzellen innovative Konzeptansätze umgesetzt, die eine soziale Aufwertung der in Altenburg traditions- und geschichtsträchtigen aber schwindenden Schreberanlagen bewirken. Neben dem biologischen Anbau von Gemüse, Obst und Pflanzen, das schließlich auch in Gemeinschaft geerntet und gegessen wird, finden immer wieder kulturelle und künstlerische Events sowie Bildungsveranstaltungen in den Gärten statt und laden die Stadtgesellschaft zur Teilhabe ein.

In den zurückliegenden Monaten wurde ich oft gefragt: „Wie hat das eigentlich alles angefangen?“, „Wie können Beteiligungsprozesse derart weit in die Bürgerschaft einer Stadt hineinreichen?“. Verbunden mit diesen Fragen ist wohl auch die Hoffnung, dass meine Antworten eine Art Anleitung lieferten, damit ähnliche Prozesse auch in anderen Quartieren und Städten mit den entsprechenden Methoden und Ressourcen erfolgsversprechend umgesetzt werden können. Sicher gibt es gewisse Kriterien und Werkzeuge, die man auf andere Orte übertragen kann. Entscheidend ist meines Erachtens aber vor allem eines: Die Zusammensetzung und Typologie der Akteur*innen. Es steht und fällt mit den Menschen und deren Haltung. Ein Stadtmensch ist nämlich nicht qua seines Amtes, seiner Position, seiner besonderen Kompetenz in Sachen Stadtentwicklung oder seiner Entscheidungsbefugnisse definiert. Stadtmensch zu sein bedeutet, dass man eine gewisse Haltung einnimmt und Stadtentwicklung als das begreift, was sie ist: eine gemeinschaftliche Aufgabe und Verantwortung.

Die Stadtmenschen entstammen der Idee einer Gruppierung, die sich 2016 im städtischen Schloss- und Kulturbetrieb tummelte. Der damalige Direktor der Einrichtung und das Kulturmanagement der Stadt zielten mit einer so genannten „Akademie für Zivilengagement“ auf die Stärkung der Stadtgesellschaft und boten engagierten Bürger*innen einen technisch und logistisch organisierten Rahmen für Aktivitäten. Das Ganze wurde als bunter Basar in Festivalmanier gefeiert und zeigte die Vielfalt der zivilen Akteur*innen mit ihren Ideen für die Stadt. So eigneten sich im Mai 2018 Bürger*innen vier Tage lang ihre Stadt auf eine Weise an, die nicht reguliert oder kuratiert war, und gestalteten aktiv nach ihren Bedürfnissen alltäglich gemeinsam genutzten Stadtraum. Jeder einzelne trug dabei die Verantwortung für seine Aktion und fällte eigenständig Entscheidungen. In den ersten Tagen und Wochen dieser Kooperationen in Altenburg entstand unser Name: STADTMENSCHEN. Die Akteur*innen, die sich dann um diese Idee scharten, kann man wohl als die „Held*innen des Ursprungs“ bezeichnen. Denn sie fingen einfach an, ohne dass klar war, wohin das Ganze führen und welchen Erfolg man damit erzielen würde. Ungeachtet aller kritischer Stimmen haben sie mitgemacht und selbergemacht – einfach, weil sie sich ihren Anteil an der Stadt nehmen wollten. Am Ende des Tages hat sich aus diesem losen Zusammenschluss engagierter Menschen ein echtes Stadtmacherprojekt von nationaler Bedeutung entwickelt. Warum eigentlich? Weil die Zivilgesellschaft eine gehörige Portion Experimentiergeist und den Mut besaß, das Projekt aus den kommunalen Strukturen herauszunehmen und in eigener Verantwortung umzusetzen.

Weitere Informationen zum Projekt “Stadtmensch” findet ihr hier oder im dazu erschienenen Buch.


(Foto: Privat)

Anja Fehre arbeitet als Managerin des NSP-Pilotprojektes STADTMENSCH und des Gründerlabors AHOI in kreativkulturellen Projekten und entwickelt Räume. Sie studierte in Leipzig Archäologie und Journalistik, war als freie Journalistin tätig und vier Jahre im städtischen Schloss- und Kulturbetrieb angestellt, bevor sie zur gemeinnützigen GmbH Erlebe was geht wechselte.

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