Donnerstag, 28. März 2024

Von der Verkehrs- zur Mobilitätsplanung

Von A nach B

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Neue Perspektiven für die kommunale Praxis

Die deutsche Verkehrsplanung ist etwas Besonderes. Als eine der letzten ihrer Art im europäischen Vergleich agiert sie maßgeblich entlang unpolitischer Maßstäbe. Insbesondere der für die Verkehrsentwicklung so entscheidende Infrastrukturausbau wird bis heute anhand ingenieurwissenschaftlicher Regelwerke und Konzepte geplant, wie z. B. der Richtlinien für Integrierte Netzgestaltung der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen oder des Bundesverkehrswegeplans. All diesen Werken ist gemein, dass der Verkehr an sich als gegeben angesehen wird und die Infrastruktur – und im Nachgang dadurch auch Raum, Mensch und Natur – entsprechend der Verkehrsnachfrage zu gestalten ist.

Mit keinem Wort werden in diesen Dokumenten wünschenswerte oder maximal verträgliche Werte für den Verkehr erwähnt, welche die gesamtgesellschaftlichen Leitbilder abbilden. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn der Verkehr als einziger Sektor es nicht schafft, seine Klimaziele zu erreichen. Im Gegenteil: Die Schadstoffemissionen und Pkw-Zulassungszahlen gehen weiter nach oben. Gestützt wird der Status quo von mittlerweile jahrzehntealten Gesetzen wie dem Straßenverkehrsgesetz und der Straßenverkehrsordnung. Sie erschweren es zusätzlich, die aktuellen Rahmenbedingungen der Verkehrsplanung zu überholen, sichern sie doch der “Flüssigkeit des Verkehrs” eine besonders hohe Priorität zu, auf deren Grundlage viele innovative Verkehrskonzepte einfach wegzuklagen sind.

Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten

Im starken Kontrast dazu gibt es seit Jahren auf Ebene der Länder und Kommunen immer mehr Bemühungen, die gesellschaftlichen Ansprüche endlich auch auf den Verkehr zu übertragen. Beispielsweise mit bundesweiten Initiativen (Stichwort Tempo 30 in Städten) oder progressiven Leitfäden und Gesetzen wie dem Berliner Mobilitätsgesetz. Hier wird versucht, die Versäumnisse der Bundesverkehrspolitik zumindest im kommunalen Kontext aufzuholen. Dabei gibt es aufgrund der zuvor genannten Bundesgesetze und -normen für den kommunal Planenden nur wenige Spielräume. Insbesondere weil die direkten Einflussmöglichkeiten auf Verkehr und Infrastruktur für die Kommune so beschränkt sind, hat sich deshalb ein alternativer Ansatz entwickelt: das Mobilitätsmanagement.

Beim Mobilitätsmanagement spielt nicht nur der Verkehr eine Rolle, sondern die Mobilität der Menschen. Die Mobilität bezeichnet all das, was dem Verkehr vorgelagert ist: alle individuellen Ressourcen, Fähigkeiten und Wahrnehmungen, die unseren ganz eigenen Möglichkeitsraum aufspannen. Schaffen wir diesen Möglichkeitsraum zu verstehen und zielorientiert zu gestalten, ist es möglich, den Verkehr zu gestalten, bevor er überhaupt entsteht – ein mächtiges Werkzeug im Kampf gegen Klimawandel und Umweltbelastungen.

Planungsfelder arbeiten gegeneinander

Trotz vieler neuer Stellen in deutschen Verwaltungen und Unternehmen bleibt der sichtbare Erfolg von Mobilitätsmanagement in Bezug auf die Verkehrsentwicklung aus. Im Detail zeigt sich, dass die Mobilitätsmanager*innen und Mobilitätsbeauftragten in der Praxis parallel zur klassischen Verkehrsplanung agieren und zum Teil sogar gegeneinander arbeiten. So kann beispielsweise vom Mobilitätsmanagement ein nachhaltiges Mobilitätskonzept für ein Gewerbegebiet entworfen werden, jedoch werden gleichzeitig von der Verkehrsplanung eine neue Straßentangente auf Basis der geltenden Regelwerke und von der Stadtplanung ein neues suburbanes Einfamilienhausgebiet
entwickelt. Die Wirkung auf den Verkehr bleibt damit begrenzt. Die Planungsfelder arbeiten in der Praxis häufig nicht zusammen, der Verkehr wird weiterhin so isoliert geplant wie bisher. Dabei bietet die Mobilität als Konzept, welches die Möglichkeiten der Menschen betrachtet, viele Handlungsspielräume, den Verkehr zu gestalten und gleichzeitig individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen. Mobilität ist der Schlüssel, um die deutsche Verkehrsplanung normativ mit den gesellschaftlichen Leitbildern zu verknüpfen. Jedoch darf die Mobilität nicht als Add-on isoliert neben Verkehrs- und Stadtplanung stehen, sondern muss in einem ganz neuen Planungsverständnis gedacht werden.

Mensch steht im Fokus

Dieses neue Planungsverständnis nennen wir Mobilitätsplanung. Im Gegensatz zur Verkehrsplanung steht hier die Mobilität der Menschen im Fokus. Verkehr kann hierbei ein wichtiges Instrument zur Mobilitätsverbesserung sein, muss es aber nicht. Beispielsweise dann, wenn aufgrund von Homeoffice-Regelungen und dezentralen Co-Working-Spaces das Bedürfnis, arbeiten zu können, ohne physischen Verkehr verfolgt werden kann. Es wird direkt der Möglichkeitsraum von Menschen geplant und nicht lediglich die darauffolgenden Effekte. Hier wird deutlich, wie stark dieser Perspektivwechsel die Handlungsmaximen der klassischen Verkehrsplanungswerke hinterfragt. Durch alternative, nicht prinzipiell verkehrliche Maßnahmen wirken die klassischen Bedarfsfeststellungsverfahren und Richtlinien, welche die Handlungsoptionen von Beginn an auf rein verkehrliche Maßnahmen reduzieren, eindimensional. Die Mobilitätsplanung bedient sich dabei verschiedener Instrumente aus der Erreichbarkeits-, Verkehrs-, Umwelt- und Sozialplanung, um entlang der Mobilität bedarfsgerechte Strategien und Konzepte zu entwickeln. Und an dieser Stelle greift das Mobilitätsmanagement zu kurz, indem es zwar die Mobilität, nicht aber Infrastruktur und Verkehr in ihre Planungen mit einbezieht. Die ganzheitliche Betrachtung der Mobilität ist Voraussetzung, damit eine zielorientierte und nachhaltige Planung selbiger gelingen kann. In der Wissenschaft konnten wir drei zentrale Dimensionen identifizieren, welche die Mobilität der Menschen beeinflussen:

  1. die räumlichen Strukturen,
  2. die individuellen Ressourcen und Fähigkeiten,
  3. die persönlichen Wahrnehmungen und Normen.
Dimensionen der Mobilitätsplanung (Grafik: Rammert)

Und genau hier liegen die Aufgabenfelder einer Mobilitätsplanung: die mobilitätsorientierte Gestaltung der räumlichen Strukturen, die Befähigung der Menschen und die Beeinflussung der persönlichen Wahrnehmungen. Versucht sich an Letzterem bereits das Mobilitätsmanagement, müssen zukünftig auch die Befähigung der Menschen (9-Euro-Ticket,
Entfernungspauschale) und die räumliche Gestaltung (Siedlungsentwicklung, Mobilitätsdienstleistungen) Teil der Mobilitätsplanung sein. Erst im Zusammenspiel hat Planung die Möglichkeit, die Verkehrsentwicklung zielorientiert zu gestalten und gleichzeitig die Bedarfe der Menschen vor Ort zu berücksichtigen. Dies ist das Ziel zukünftiger Mobilitätsplaner*innen. Dieses Konzept funktioniert bereits bei vielen unserer europäischen Nachbarn, z. B. mit den Mobilitätsplänen in Frankreich und den Niederlanden oder den Sustainable Urban Mobility Plans in Belgien, Dänemark und dem Baltikum. Und dort, wo eine funktionierende Mobilitätsplanung etabliert ist, zeigen auch die relevanten Kennwerte der Verkehrsentwicklung in die richtige Richtung. Auch in Deutschland gibt es mittlerweile immer mehr Landkreise und Städte, welche sich an einer Mobilitätsplanung versuchen. Wichtig ist es, diese Entwicklungen auch von Bundesebene weiter zu unterstützen und langfristig die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Dazu gehören eine Anpassung des gesetzlichen Rahmens in Anlehnung an das Berliner Mobilitätsgesetz, eine Weiterentwicklung des Bundesverkehrswegeplans zu einem Bundesmobilitätsplan und Planungsstrukturen, die sich nicht lediglich auf den Verkehr und seine Verkehrsträger (Straße, Schiene, Wasser, Luft) fokussieren, sondern auf den Menschen.

Hier bleiben der kommunalen Planung zwei Möglichkeiten: erstens kurzfristig die eigene Planungskultur weiterzuentwickeln und die Verkehrsplanung durch mobilitätsrelevante Aspekte zu erweitern, beispielsweise mit gemeinsamen Strategien der Stadt-, Verkehrs- und Umweltplanungsabteilungen. Zweitens langfristig über die Länder, den Bundesrat und die kommunalen Verbände, die Druck auf die Bundesebene aufbauen. Aktuell beschließt die EU-Kommission weitere Schritte, um die Mobilitätsplanung in der EU stärker zu vereinheitlichen, und auch der gesellschaftliche Druck nimmt mit jedem Jahr zu. Wichtig bleibt es immer, den Mehrwert einer an der Mobilität der Menschen orientierten Planung gegenüber der klassischen Verkehrsplanung hervorzuheben. Denn eine nachhaltige Verkehrsentwicklung, die gleichzeitig die Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt, ist letztendlich in unser aller Interesse.


(Foto: Rammert)

Dr. Alexander Rammert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung der Technischen Universität Berlin.

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