Mittwoch, 8. Mai 2024

Neurodiversität

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Der große blinde Fleck unserer Gesellschaft

Während der letzten Jahrzehnte gab es in der gesamten westlichen Welt enorme progressive Entwicklungen. Im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch etwa stand noch im Jahr 1977: „Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.“. Eine solche gesetzliche Regelung ist heutzutage undenkbar, weil die Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann sehr große Fortschritte gemacht hat. Inzwischen setzt sich Vielfalt und Diversität überall dort durch, wo Missstände, Diskriminierungen und Benachteiligungen offenbar werden. Es gibt jedoch einen Bereich, der nach wie vor ein großer blinder Fleck unserer Gesellschaft ist, nämlich die Neurodiversität.

Neurodiversität und Diskriminierung

Der Begriff „Neurodiversität“ bringt zum Ausdruck, dass Menschen in psychischer und vor allem neurologischer Hinsicht äußerst unterschiedlich, eben „divers“ sein können. Allerdings sind damit nicht die kleinen emotionalen und geistigen Besonderheiten gemeint, die uns voneinander unterscheiden, vielmehr geht es bei der Neurodiversität um grundlegende psychische Unterschiede zwischen uns Menschen. In diesem Sinne „neurodivergent“ sind etwa Hochbegabte, Autisten und Menschen mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit hyperaktivem Element) oder ADS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung ohne hyperaktivem Element). Und es gibt wohl keinen neurodivergenten Menschen, der nicht die eine oder andere Diskriminierung erleben musste.

So werden Hochbegabte im Kolleg*innenkreis gerne als „verkopft“ beleidigt, Studierende mit AD(H)S oft als hoffnungslose Fälle bezeichnet und Menschen mit autistischen Zügen derweilen als empathielose Monster behandelt. Die Urheber*innen dieser Diskriminierungen verhalten sich dabei meist in dem Maße selbstgefällig, wie sie in psychologischen Belangen uninformiert sind. Doch nicht nur im zwischenmenschlichen Kontakt werden neurodivergente Menschen diskriminiert, vielmehr gibt es eine „systemische“, eine „institutionelle“ Diskriminierung. Das zeigt sich etwa bei standardisierten Auswahlverfahren wie Assessment-Centern oder anderen Methoden der Personalgewinnung, die sowohl in der Wirtschaft als auch im Öffentlichen Dienst massenhaft verwendet werden. Diesen Verfahren liegt die Idee zugrunde, dass es nur ein korrektes, ein ideales Verhalten gibt – und dieses Verhalten wird positiv benotet, abweichende Verhaltensweisen werden mit Punktabzug bestraft. Neurodivergente Menschen scheitern deshalb bei solchen Auswahlverfahren, weil ihr besonderes Wesen häufig von diesem erwarteten Idealverhalten abweicht.

Internationales Symbol für Neurodiversität: Das regenbogenfarbene Unendlichkeitszeichen. (Foto: janeb13, pixabay.com)

Neurophobie und ihre Folgen

Durch dieses zwischenmenschliche Unverständnis und diese institutionelle Diskriminierung fühlen sich neurodivergente Menschen oft missverstanden, zurückgewiesen und gekränkt. Bei resilienten und widerstandsfähigen Charakteren mag dies nicht sonderlich ins Gewicht fallen – doch bei vielen ist die neurodivergente Besonderheit ihres Wesens der Grund für eine Biografie voller Zurückweisungen, in der es ihnen gerade deshalb nicht möglich war, psychische und geistige Widerstandskräfte aufzubauen. Das kann im schlimmsten Fall zu einer Verzweiflung führen, die ihren einzigen Ausweg im Selbstmord sieht. Deshalb gilt gerade bei der Neurodiversität das Sprichwort „Ignoranz tötet“.

Diese Ignoranz kommt nicht von ungefähr. Für viele ist die Psyche das große Unbekannte, das Dunkle, bedrohlich und furchterregend. In ihr liegen Liebe, Leidenschaft, Lust und Lebensfreude ebenso wie Schmerz, Scham, Schuld und Scheitern. Und so, wie die Menschen sich vor den Abgründen der eigenen Psyche ängstigen, fürchten sie sich vor den psychischen Abgründen, die sie bei ihren Mitmenschen wahrnehmen oder auch nur vermuten. Aufgrund dieser Furcht sind die Menschen nicht in der Lage, sich dem besonderen Wesen neurodivergenter Menschen zu öffnen. Stattdessen verhalten sie sich ängstlich, wenden sich ab oder werden aggressiv, kurz: verhalten sich „neurophob“. Diese „Neurophobie“ zeigt sich vor allem in der – teils sehr emotional geäußerten – Ablehnung des Themas Neurodiversität.

Aufklärung ist das Gebot der Stunde

Den Menschen dabei zu helfen, ihre Neurophobie zu überwinden – darum muss es uns allen nunmehr gehen. Denn Neurodiversität ist universell und global – sie kennt weder Geschlecht noch Alter, weder Kultur noch Ethnie, weder Glauben noch politische Überzeugung. Wo es Menschen gibt, da gibt es Neurodiversität. Glücklicherweise sind die ersten Schritte einer Aufklärung bereits gemacht. International hat sich inzwischen ein Symbol für Neurodiversität durchgesetzt, nämlich das Unendlichkeitszeichen in Regenbogenfarben. Und vereinzelt trifft man auf Veröffentlichungen, Videos und Texte zu diesem Thema. Doch ist dies alles noch viel zu wenig, denn für die Mehrheit der Menschen ist Neurodiversität noch eine große Unbekannte – und für die Gesellschaft deshalb der große blinde Fleck.

Prof. Dr. Maximilian Wanderwitz ist Professor für Wirtschaftsrecht, insbesondere das Recht der Informationstechnologie, an der Hochschule Trier, Umwelt-Campus Birkenfeld. Seine Forschungsschwerpunkte sind “Legal Tech” sowie “Recht und Ethik in der Digitalen Welt”.

(Foto: Bildschön/Gierke)

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