Sonntag, 19. Mai 2024

Agilität in der öffentlichen Verwaltung – Vorurteile und Chancen

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Dieser Tage erkennen wir so klar wie lange nicht, mit welchen zahlreichen tiefgreifenden Problemen die öffentliche Verwaltung konfrontiert ist. Die Organisation von Lösungen abseits etablierter Strukturen fällt ihr in der Regel schwer. Gerade dort, wo das Ziel – wie etwa ein ums Überleben kämpfendes Virus – beweglich ist, funktionieren eingeübte Mechanismen und Routinen meist schlecht. Gerne wird auf solche Herausforderungen mit der Behauptung geantwortet, die öffentliche Verwaltung müsse selbst agiler, also beweglicher werden. Übersetzt also, sie müsse mehr agile (Projekt-) Managementmethoden (kurz: agile Methoden) einsetzen. Aber schreit die Problembeschreibung des öffentlichen Sektors tatsächlich nach agilen Methoden? Unserer Auffassung nach springt dieser Ansatz zwar pauschal zu kurz, wir glauben aber sehr wohl, dass Agilität die Aufgabenbewältigung im öffentlichen Sektor auch jenseits von Digitalisierung und Software-Entwicklung beflügeln kann.

Agile Methoden jenseits verbreiteter Missverständnisse

Häufig wird die Einführung agiler Methoden als Befreiung von einem geordneten Vorgehen verstanden und dargestellt. Gerade im Bereich der Leistungsverwaltung wird das als ein Widerspruch in sich wahrgenommen. Wir gestehen gerne zu, dass agile Methoden besonders in der gestaltenden Verwaltung – sei es bei der Transition zu zeitgemäßen digitalen Systemen oder der Bekämpfung einer Pandemie – Optimierungspotential entfalten. In der Ordnungsverwaltung (z.B. Polizei, Ordnungsamt, Feuerwehr) sind agile Methoden dagegen möglicherweise nicht oder nur teilweise angemessen. Möglicherweise können bestimmte Bereiche der internen Arbeitsorganisation auch hier agil organisiert werden. Doch größere Teile dieses Leistungsbereiches entziehen sich sowohl klassichen als auch agilen Managementmethoden, da sie wesentlich über das Steuerungskonzept „Hierarchie“ und „Recht“ umgesetzt werden.

Bereits im Vorfeld des Angangs von Projekten wird gewöhnlich eine Entscheidung für das Vorgehensmodell getroffen. Besteht Unsicherheit in Bezug auf die Zieldefinition (nicht eindeutig greifbar und volatil vs. klar definierbar und stabil) und/oder bezüglich der Umsetzung (“Wie erreichen wir das Ziel?”), dann empfiehlt sich agile Methodik. Grundsätzlich kann Agilität überall dort einen Beitrag leisten, wo man entweder mit sehr hoher Unsicherheit konfrontiert ist oder stark von Prozessoptimierungen profitiert.

Werden agile Methoden dann tatsächlich angewendet, bedeutet das keineswegs die Abwesenheit langfristiger Planungsstrukturen. Es bedeutet lediglich, dass man sich von allzu starren Meilensteinplänen (z.B. nach IPMA) zugunsten einer flexiblen Rahmenplanung und eines Rahmenbudgets verabschieden muss. Auch wenn das zunächst paradox klingen mag: Dadurch wird eine Umgebung der Sicherheit geschaffen, die dennoch Veränderung ermöglicht. Da Sicherheit eine der wichtigsten Währungen in der öffentlichen Verwaltung ist, kann nicht genug betont werden, dass Berechenbarkeit und Planungsoffenheit keine natürlichen Feinde sind. Häufig sind agile Projekte sogar transparenter und Indikatoren-getriebener als klassische. Bei korrekter Anwendung agiler Methoden wird in der Regel genauer gemessen, was erreicht wurde, und damit auch bestimmbar, was in Zukunft erreicht werden kann. Das wiederum gewährleistet einen höheren Grad an Sicherheit als klassische Projektmanagementmethoden. Durch kurze Entwicklungs- & Reviewzyklen reduziert sich das Risiko für Fehlentwicklungen (fail fast). Das wird auch dadurch erreicht, dass bei agilen Methoden großer Wert auf Messbarkeit, Transparenz und Vorhersagbarkeit gelegt wird.

Agilität ist eine Einstellungs- und Kulturfrage

Nach agilem Ansatz zu arbeiten bedeutet immer ein exploratives empirisches Vorgehen, sprich das Testen von Hypothesen an Erfahrungen. Dass Hypothesen falsch sein können, wird dabei vorausgesetzt. Fehler sind daher kein Betriebsunfall, sondern ein gewöhnliches Ereignis, mit dem gerechnet wird. Fehlentwicklungen werden auf diese Weise schneller aufgedeckt und fallen kleiner aus, da sie unverzüglich angegangen werden müssen. Ein jahrelanges Laufen von großen IT-Projekten in eine falsche Richtung ist mit diesem Ansatz beispielsweise nicht möglich. Hier wird deutlich, warum sich die in öffentlichen Institutionen weit verbreitete Problemverschleierungskultur mit agilen Methoden schwertut.

Abwesenheit eines engmaschigen Controllings ist gerade kein Kennzeichen von Agilität. Vielmehr geht es darum, dass die Inhalte von Meilensteinen nicht in ferne Zukunft geplant werden, sondern anhand von neuen Erkenntnissen flexibel angepasst werden können. Somit ist bei der Anwendung agiler Methoden ggf. nicht genau definiert, was ich in sechs Monaten umgesetzt wird, aber es ist klar, wie viele Themen nach aktuellem Stand in diesem Zeitraum umgesetzt werden könnten. Da diese Herangehensweise vielfach einen kulturellen Wandel in der öffentlichen Verwaltung voraussetzt, ist das Bekenntnis der höchsten Management- bzw. Verwaltungsebenen zu agiler Methodik von zentraler Bedeutung.

Gemessen an der Vorstellung von unverrückbaren Zielen, die sich (nur) mittels generalstabsmäßiger Planung erreichen lassen, erfordern agile Methoden ein Umdenken in die Richtung, dass man sich zumindest vorstellen können muss, dass beispielsweise zertifizierte Impfzentren wirklich DIE seligmachende Antwort auf die dritte Welle einer Pandemie sind. Dies wäre bei agilen Methoden eine Hypothese, die (anhand zuvor definierter KPI) zu validieren wäre.

Mit Zielorientierung und Transparenz zum Projekterfolg

Je besser messbar die Ziele sind, die ich mit agilen Methoden erreichen möchte, desto besser: Um wie viel höher soll die Rate der mit einer Leistung zufriedenen Nutzer liegen? Wie viele Prozesse möchte man bis zum Zeitpunkt X digitalisiert haben? Wie viele Menschen müssen innerhalb eines Zeitraums geimpft werden? Das sind Fragen, die auch und gerade zu agilen Projekten passen, um gerade hier eine klare Vorstellung von den gemeinsamen Zielen notwendig ist. Der Weg kann geändert werden, das Schiff auf hoher See muss jederzeit umgebaut werden können, aber es muss erstens stets deutlich sein, warum ich das mache, und es muss zweitens klar sein, dass ich innerhalb eines avisierten Zeitraums im Zielhafen einlaufen kann.

Möglichst kleine, gekapselte Prozessschritte, die für sich zunächst scheitern und modifiziert werden können, ohne das Gelingen des Ganzen in Frage zu stellen – das ist das zentrale Denkmodell agiler Methoden. Agile Teams arbeiten zielorientiert und flexibel. Und Beweglichkeit der Handlungsstrategien ist angesichts einer widerständigen Realität an und für sich eine Tugend. Ohne sie werden wir große Herausforderungen wie den digitalen Wandel, den Klimawandel oder die Covid19-Pandemie nicht meistern können.

Letzten Endes muss sich Agilität in die rechtliche Systematik von Veraltungshandeln einsortieren. Dazu bedarf es einer anspruchsvollen Verschränkung der Steuerungsinstrumente „Hierarchie“ und „Recht“ mit den flexiblen, agilen Steuerungsformen „Organisation“ und „Kultur“. Nur in einer solchen Balance kann Agilität im öffentlichen Sektor funktionieren.

Dr. Tobias Knobloch ist Partner und Geschäftsführer der Civitalis GmbH und hatte davor berufliche Stationen bei der Stiftung Neue Verantwortung, in der Bundesverwaltung und Wissenschaft. Der rote Faden ist das Bemühen um einen zeitgemäßen und handlungsfähigen öffentlichen Sektor.

Philipp Nordhausen ist Senior IT Consultant bei der publicplan GmbH und war vorher bereits in mehreren Beratungen im Kontext der Digitalisierung, agiler Arbeitsweisen und Projektmanagement tätig. Er verfügt über jahrelange Erfahrung im Aufbau von agilen (Projekt-) Organisationen unterschiedlichen Umfangs sowie mit der Verbindung von agilen (bspw. Scrum) und klassischen Elementen (bspw. IPMA).

Dr. Christoph Andersen ist Partner und Geschäftsführer der Civitalis GmbH und war davor u.a. CIO der Stadt Potsdam. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Modernisierung öffentlicher Institutionen, insbesondere im Hinblick auf die Neuausrichtung von Steuerung, Organisation und IT-Einsatz.

Die Autoren verfügen zusammen über Jahrzehnte an Erfahrung in der Beratung privater Unternehmen und öffentlicher Institutionen. Sie arbeiten seit 2020 gemeinsam an der Realisierung des Wirtschafts-Service-Portal NRW – einem agilen Projekt zur Digitalisierung sämtlicher Wirtschaftsverwaltungsleistungen.

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