Donnerstag, 2. Mai 2024

Tierkadaver – Hotspots der Biodiversität

Must read

Bei Wanderungen durch Deutschlands Wildnisgebiete wird Euch schnell klar: Totholz mit all seiner faszinierenden Zersetzerbiodiversität ist allgegenwärtig. Doch Ihr fragt Euch vielleicht, wie es mit toten Wildtieren aussieht? Warum werden deren Kadaver, die nicht mehr für den menschlichen Verzehr geeignet sind, noch immer schnellstmöglich beseitigt? Gehören beispielsweise Wildunfallkadaver nicht zum Ökosystem und sollten nicht zumindest teilweise in diesem belassen werden?

Kadaver sind höchst nährstoffreiche und allgegenwärtige Biomasseresourcen mit hohen Umsatzraten. Ein 30 kg schwerer Kadaver (ein Rehkadaver wiegt z.B. 23 Kilogramm) trägt vier Kilogramm Stickstoff in einen Quadratmeter Boden ein. Das entspricht in etwa einer landwirtschaftlichen Düngung von über 100 Jahren. Außerdem sind die Wildtierkadaver wahre Hotspots für Biodiversität. Hinsichtlich der Besucherbiodiversität konnten z.B. im Nationalpark Bayerischer Wald 17 Arten großer Aasfresser (darunter z.B. Seeadler, Rotmilan oder Wildkatze), 92 nekrophile Käferarten, 97 Zweiflüglerarten, 1.820 Bakterienarten und 3.726 Pilzarten (vgl. von Hoermann et al. 2023) an Wildtierkadavern festgestellt werden. Darunter fand ich auch echte Raritäten wie den Scheinstutzkäfer Sphaerites glabratus oder den Scheinaaskäfer Necrophilus subterraneus. Aber auch sehr dominante Käferarten wie der große schwarze Uferaaskäfer Necrodes littoralis spielen eine wichtige Rolle im Ökosystem. Im folgenden Video könnt ihr unsere Markierungsaktion zum Verständnis des Ausbreitungsverhaltens gut sehen:

(Wer keine Tierkadaver, Maden und weiteres sehen möchte, sollte allerdings lieber ab dem nächsten Absatz weiterlesen.)

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Aufgrund ihrer räuberischen Lebensweise – sie fressen große Mengen an Fliegenmaden – schaffen die Uferaaskäfer zusätzliche Nischen für zahlreiche Folgebesiedler am toten Tier. Damit beschäftige ich mich aktuell in sogenannten Multi-Taxa-Netzwerkanalysen. Wertvolle Biodiversitätstreiber wie die Uferaaskäfer sind auf ein regelmäßiges Angebot an größeren Wildtierkadavern wie z.B. Reh oder Rotwild angewiesen. Letzteres gehört jedoch noch nicht zu unserem immer noch sehr aufgeräumten Landschaftsbild.

Zusätzliche Arbeiten zum besseren Verständnis des Einflusses der Kadavertierart werden von der kadaverökologisch forschenden Seite als Brückenschlag zwischen Grundlagenforschung und angewandter Wissenschaft gefordert. Im Nationalpark Bayerischer Wald wurde dazu ein direkter Vergleich der Einflüsse von Umweltparametern auf die Biodiversität von mikrobiellen (Bakterien und Pilze) und Käferartengemeinschaften am Kadaver mit bereits bekannten Ergebnissen aus der Totholzforschung angestellt. Die Kadavertierart spielte bei der Gemeinschaftszusammensetzung der Kadaverbakterien eine weitaus wichtigere Rolle im Vergleich zur Baumart bei den Totholzbakterien. Zudem zeigte sich die Kadavertierart (z.B. Fuchs, Reh oder Rotwild) als äußerst bedeutend für die Diversität der Aaskäfer. Die Abfolge der Zersetzungsstadien war Haupteinflussnehmer auf die Pilzbiodiversität am Kadaver.

Um mehr über den ökologisch bedeutsamen Lebensraum Aas und das bisher erforschte Zusammenspiel seiner Besucher herauszufinden, wurde das vom Bundesamt für Naturschutz geförderte Projekt „Belassen von Wildtierkadavern in der Landschaft – Erprobung am Beispiel der Nationalparke“ ins Leben gerufen. Alle 16 deutschen Nationalparke sind mittlerweile als Partner des Projektträgers Universität Würzburg beteiligt. Über einen Zeitraum von fünf Jahren soll so die versteckte Biodiversität am Kadaver in den unterschiedlichen Lebensraumtypen der Nationalparke ermittelt werden. Mit einem Blockdesign, unter dem Fokus wissenschaftlicher Beprobung und Datenanalyse, werden im Sommer 2023 große Aasfresser mittels Fotofallen, Insekten mittels Becherfallen und Pilze und Bakterien mittels Abstrichen (das kennt Ihr bereits alle von den Coronatests) erfasst und genetisch analysiert. Untersucht werden die optimalen Bedingungen des Aasangebots, um die Auswirkungen auf die Biodiversität der Kadaverbesucher schutzgebietsübergreifend zu optimieren.

Die ausgelegten Rehkadaver werden durch die Nährstoffrückführung wieder Bestandteil jener Pflanzen, die sie einst gefressen haben. Ein für mich völlig natürlicher und unter diesem Gesichtspunkt sogar angenehm anmutender Prozess, der nun in allen 16 Nationalparken näher unter die Lupe genommen wird.


Dr. Christian von Hoermann ist Kadaverökologe und beschäftigt sich seit Oktober 2017 im Nationalpark Bayerischer Wald mit der versteckten Biodiversität am Wildtierkadaver. Als forensischer Chemoökologe kooperierte der Biologe unter anderem mit dem Institut für Rechtsmedizin in Bonn und dem Bayerischen Landeskriminalamt. Dr. von Hoermann ist seit Oktober 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Würzburg und als Projektkoordinator im BfN-Aasprojekt tätig.

- Werbung -

More articles

Latest article