Freitag, 26. April 2024

Ohne Arzt mit viel Praxis

Von Vorsorge bis Versorgung

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Nebel hängt über dem 5.000 Seelen Ort Spiegelberg. Bis zur nächsten Arztpraxis sind es 20 Kilometer. Der Allgemeinarzt vor Ort hat vor sechs Jahren dicht gemacht. Die Apotheke ein Jahr später.

Uwe Bossert von den Freien Wählern ist das Gesicht und das politische Gewissen des Städtchens. Er sagt: „Ich habe drei Herausforderungen: Erstens: Die digitale Infrastruktur. Wenn ich kein Internet habe, kann ich keine Wirtschaft ansiedeln, dann gibt es keine Arbeitsplätze. Zweitens: Bildungseinrichtungen vom Kindergarten bis zur weiterführenden Schule. Das ist wichtig, um junge Familien anzuziehen und drittens: Gesundheitsversorgung. Das braucht die immer älter werdende Bevölkerung.“ Und was macht er, um Gesundheitsversorgung wieder ins Dorf zu bekommen? Gute Frage.

Einfach beantwortet für die Gesunden. Sie brauchen keine ärztliche Dienstleistung. Einfach für die Mobilen, sie fahren mal schnell zum nächsten Arzt und hoffen, dass der einen Termin hat und sie aufnimmt. Nicht so einfach aber für viele andere. Die chronisch Kranken, die Alleinstehenden, die Immobilen, die digital abgehängten, für viele der im Dorf oder in ländlichen Regionen Zurückgebliebenen. Aus dem Grundgesetz leitet sich die Gleichheit der Lebensumstände in Deutschland ab, von der der Gesetzgeber seit der Wiedervereinigung spricht. Diese Gleichheit gilt für die digitale Infrastruktur wie auch für die medizinische Versorgung, um nur zwei herauszugreifen. Allerorten besteht Nachholbedarf.

Arztbesuch – As a service

Die Ohnearztpraxis ist der Versuch, die lokalen und regionalen Strukturen in der medizinischen Versorgung zu erhalten, sie jedoch auch digital zu reformieren und aktiv mit einzubinden. Das bedeutet, sie tritt nicht in Konkurrenz zu niedergelassenen Ärzten, sondern sie erweitert deren Reichweite. Das geschieht vor dem Hintergrund, dass die ungleiche Verteilung von medizinischen Dienstleistern, was die Verfügbarkeit im städtischen und ländlichen Bereich angeht, nicht kurzfristig und einheitlich politisch lösbar ist und es daher neue und innovative Formen geben muss.

Zum Grundkonzept der Ohnearztpraxis gehört, dass die ärztliche Ressource genau dann genutzt wird, wenn sie gebraucht wird und nur dann. D. h. grundsätzlich kann ein*e Arzt/Ärztin mehr Patient*innen pro Zeiteinheit sehen, diagnostizieren und einer Therapie zuführen. Selbstverständlich lebt die Medizin von der persönlichen und menschlichen Interaktion. Die muss aber nicht vollends und einzig durch den Arzt/die Ärztin erbracht werden. Bezugspunkt kann auch eine entsprechend ausgebildete Pflegeperson sein. Das Verhältnis zwischen Arzt/Ärztin und Patient*in bleibt davon jedoch unberührt, da jede*r Patient*in auch seinen eigenen Arzt mitbringt, der die Ohnearztpraxis nutzt, wie anderswo Software genutzt wird: As a service. Das Modell wird also gewissermaßen auf den Kopf gedreht. Statt „Arzt to go“, der in großen Callcentern beliebig austauschbar ist, lebt die Ohnearztpraxis vom „Arzt to come“, d. h. von einem Arzt/einer Ärztin, der/die bereit ist, sich auf dieses telemedizinische Modell einzulassen und digital mitzukommen und der den Patient*innen ohnehin schon als Hausarzt bekannt ist.

Wir gehen davon aus, dass 20 Prozent – und zuküntig noch viel mehr –  des Patientenaufkommens in einer allgemeinmedizinischen Praxis mit den Patient*innen zusammen in der eigenen Häuslichkeit geklärt werden kann. Dazu wird das Smartphone eingesetzt und Technologie, die sich in sehr vielen Wohnungen findet. Ferner sind es 20 Prozent an Fällen, die direkte ärztlicher Behandlung benötigen und auch weiter überwiesen werden. Hier ist manchmal die Zeit ein kritischer Faktor. Patient*innen können, zumindest für eine Zeit, nicht mehr nur in der eigentlichen Arztpraxis geführt und betreut werden. Es bleiben also 60 Prozent der Patient*innen, die in einer gut ausgestatteten Ohnearztpraxis behandelt und versorgt werden können. Der/die behandelnde Arzt/Ärztin kann die Nähe zu den Patient*innen selbst steuern und ist in der Lage unter Zuhilfenahme der örtlichen Pflegefachperson, Diagnostik und Therapie entscheidend auch telemedizinisch voranzubringen.

Kein leichter Weg

Doch die Bürger*innen gehen noch nicht in eine Ohnearztpraxis. Das liegt zum einen daran, dass dort ja gar nichts gemacht werden darf. Grund dafür sind die für solche Modelle nicht mehr zeitgemäßen gesetzlichen Rahmenbedingungen und zum anderen die mangelhafte und fragmentierte digitale Infrastruktur in ländlichen Regionen sowie die nur zögerlich startende grundlegende digitale Transformation des Gesundheitswesens. Dazu gehört auch das E-Rezept, das Versenden von Medikamenten, die elektronische Patientenakte, die häusliche Medikamentenlogistik, die häusliche personennahe und personenzentrierte Erhebung von Gesundheitsdaten und deren geregelter Austausch. Dazu gehören neue Rollenverständnisse von Ärzt*innen und Apotheker*innen gleichermaßen. Viele dieser Themen waren für das Modellprojekt Ohnearztpraxis regional gelöst, denn sie stellen technologisch keine besondere Herausforderung dar. Stärker als der Widerstand zwischen Platinen ist der zwischen den Ohren. Das imaginierte Familienwappen der Kassenärztlichen Vereinigung trägt folgendes Motto: Veränderung ist großartig, so lange für mich alles so bleibt, wie es ist.

Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) hat, den Sicherstellungauftrag. Sie ist der juristische Garant dafür, dass in einer Region die medizinische Versorgung stattfinden kann. Diesen Auftrag hat Sie vom Gesetzgeber. Die KV kennt sich aus im Bewahren und Behalten. Vor allem im Recht behalten. So beschäftigten sich zeitweise bis zu zehn Jurist*innen auf deren Seite mit der Ohnearztpraxis, mit dem Ziel, nachzuweisen, warum es nicht gehen kann, nicht gehen darf. Ein wahrlich destruktives Misstrauen, das von Seiten der Ärztekammern immerhin nicht geteilt wird.

Die Ohnearztpraxis ist also trotz aller Hürden ein Modell der Zukunft. Sie findet immer mehr Nachahmer. Wir führen das Gelernte fort und entwickeln uns weiter. Wir suchen Kooperationspartner*innen auf allen Ebenen, die Lust haben, die Versorgung zu gestalten und mutig genug sind, die Zukunft damit neu zu denken. Dabei zeigt die Erfahrung, dass die Initiative auf der lokalen und regionalen Ebene losgehen muss, dort, wo die Not spürbar ist, dort wo die Veränderungen ankommen. Im Management Sprech der Unternehmensberater*innen nennt man das dann „Bottom up“, denn je höher der/die Standesvertreter*in desto größer auch die Standesdünkel und desto weniger substantiell die Umsetzung.

Blick in die Zukunft

„Machen Sie sich mal keine Sorgen“, sagt er und steigt in seine Cessna, „da haben wir schon anderes hinbekommen.“ Oliver Tiedge ist Neurologe in Erfurt, Flugmediziner ebenda und Überflieger, was die digitale Medizin angeht. „Sie brauchen mich nicht zu überzeugen. Ich mach‘ da mit. Das ist ein super Ansatz, den man unbedingt weiterverfolgen muss.“ Sprachs und hob ab vom Flughafen Erfurt-Weimar. Und mit ihm flog auch das Konzept der „Ohnefacharztpraxis“ in der ländlichen Region zwischen Eisenach und Erfurt. Manchmal ist die Lösung die Flucht nach vorn. Wenn schon die Ohnearztpraxis nicht so recht funktionieren will, dann ja vielleicht die Ohnefacharztpraxis. Man braucht nur die richten Leute.

Auch wenn die Ernüchterung in dieser ersten Version der Ohnearztpraxis doch überwiegt, konnten wir das Modell weiter ausarbeiten, z. B. zur neurologischen Ohnefacharztpraxis in Thüringen, zur Praxis, die chirurgische Wundpflege betreut oder Schwangerschaftsdiabetes.  In Eisleben, in Sachsen-Anhalt, entsteht gegenwärtig das Modell der digitalen Residenzpraxis, die in Pflegeheimen die Verbindung zu fachärztlicher Behandlung aufbaut und in Osterburg feilen wir an einem Ansatz, den Zugang zur augenheilkundlichen Diagnostik zu erleichtern. All diese Ansätze haben eine Gemeinsamkeit: Es stecken starke Personen dahinter, die die Notwendigkeit für Veränderung erkannt haben und den Druck der Versorgungsrealität bei den Bürger*innen jeden Tag zu spüren bekommen.


(Foto: Privat)

Dr. med. Tobias Gantner ist Arzt, Unternehmer und Zukunftsgestalter. Der studierte Ökonom, Jurist und Philosoph ist Gründer und Geschäftsführer der HealthCare Futurists GmbH, einem internationalen Netzwerk von innovativen Unternehmern, Think-Tank und Make-Tank. Mit seinem HealthCare MakerMobil macht er die digitale Transformation der Medizin erfahrbar. Sein Anliegen ist die Demokratisierung der Gesundheit.

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