Sonntag, 28. April 2024

Generationen zusammen bringen

Deutschland, ein Mehrgenerationenhaus

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Die Türen stehen allen offen – nicht nur symbolisch. Wer an einem beliebigen Werktag einen Blick in das Mehrgenerationenhaus (MGH) AWO Treff Bad Rodach wagt, merkt schnell, dass dieses Versprechen nicht nur eine Phrase ist, sondern gelebter Alltag in der Einrichtung, die sich seit dem Jahr 2006 offiziell „Mehrgenerationenhaus“ nennen darf. So lautet nämlich der Titel eines Bundesprogramms, das Häuser wie in der Stadt Bad Rodach fördert.

„Im Frühjahr können wir tatsächlich die Türen offen halten, im Winter lassen die Temperaturen das nicht zu“, erklärt die Leitung Nicole Voigt schmunzelnd bei einer Führung durchs Haus. In beiden Kursräumen herrscht reger Betrieb. Vorne trifft sich eine Mutter-Kind-Gruppe. Kleinkinder toben über den Boden, während die Eltern die Zeit für einen Plausch nutzen. Nicole Voigt schaut einmal nach dem Rechten, als hinter ihr eine ältere Frau neugierig das Szenario verfolgt. Nach der Visite führt die Einrichtungsleitung ihre Besucherin durch das „Wohnzimmer“, den Raum für kleinere Kurse. Dort sind gerade fünf Senior*innen beschäftigt. Wie in Trance sind ihre Augen auf das jeweilige Smartphone vor sich gerichtet. Freundlich fragt Nicole Voigt nach, ob alles läuft. Die Aushilfe Claudia Steiner bringt währenddessen Kaffee für die Anwesenden herein.

„Es handelt sich um den Handykurs für Ältere – meine Aufgabe ist es, dass die ehrenamtlichen Kursleiter*innen und Teilnehmer*innen gute Rahmenbedingungen für ihr Engagement vorfinden“, führt Sozialpädagogin Nicole Voigt aus. Aber nicht nur das: Sie sammelt Anregungen und nimmt Wünsche von Freiwilligen auf, die gerne ein ehrenamtliches Betätigungsfeld suchen. Nach ihrer Visite bei der Mutter-Kind-Gruppe zieht sie sich mit ihrer Besucherin in das angrenzende Sprechzimmer zurück. Dort erfährt die MGH-Leiterin von der älteren Bad Rodacherin, dass deren Mann nach einem Sturz mit Krankenhausaufenthalt pflegebedürftig geworden sei. Mit Tränen in den Augen schildert die Betroffene den bisherigen Verlauf und ihre Hilflosigkeit im Umgang mit der Pflegekasse und Angeboten zur Unterstützung. Nicole Voigt beruhigt die Seniorin mitfühlend und informiert sie über die Kooperation des MGH mit der Fachstelle für pflegende Angehörige in Coburg. Dort finden Ratsuchende Unterstützung rund um das Thema Pflege. Dabei verspricht Nicole Voigt, den Kontakt herzustellen. Aufgrund ihrer Erfahrung weiß sie, dass oft die Vermittlung zu fachkundigen Stellen ausreichend ist, um Menschen zu helfen: „Wir verstehen uns als Dienstleistungsdrehscheibe für alle möglichen sozialen Fragen.“

Von Anfang an hatte das MGH AWO Treff Bad Rodach Angebote für alle Generationen im Programm. Allerdings hat sich im Lauf der Jahre gezeigt, dass die Entwicklung von gemeinsamen Veranstaltungen oder Kursen über Altersgrenzen hinweg nicht einfach ist. „Es erfordert immer wieder kreative Ideen, um Jugendliche, junge Familien oder Senior*innen zusammenzubringen.“ Das Bundesprogramm macht von Anfang an Vorgaben, welche Themenschwerpunkte die Häuser in den Förderperioden setzen müssen. Über jährliche Befragungen bewertet das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Tätigkeit der einzelnen Häuser. Bei späteren Förderanträgen kommt dem Vergleich der MGH eine große Bedeutung zu. Der AWO Treff in Bad Rodach war die erste Einrichtung im Freistaat Bayern, die vor 17 Jahren einen Förderbescheid erhalten hat. Seitdem hat sich viel getan. Die Arbeit hat bereits über die Grenzen des Coburger Landes Anerkennung gefunden. Im Jahr 2014 erhielt das MGH mit seinem Konzept den Preis der Initiative „Deutschland – Land des langen Lebens.“ In der Festrede würdigte die Vereinigung das Haus für seine erfolgreiche und innovative Umsetzung ehrenamtlichen Engagements. In der Begründung für die Auszeichnung heißt es: „Dem Mehrgenerationenhaus Bad Rodach ist es gelungen, ehrenamtliche Helfer*innen im Alter von 18 bis 90 Jahren einzubinden und für alle Bürger*innen in der Gemeinde Bad Rodach einen Mehrwert zu schaffen.

Das Angebot ist umfangreich: Computerkurse, Zehn-Finger-Tastenschreiben für Gymnasialschüler*innen, Diskussionsrunden, Sitztanz für Senior*innen und vieles mehr ist im Programm. Senior Trainer werden speziell ausgebildet und kümmern sich beispielsweise um Berufscoaching für Jugendliche oder sind Lesepat*innen für Kinder.“ Das vielfältige Engagement des MGH AWO Treff Bad Rodach macht auch nicht vor der eigenen Tür halt: Mit verschiedenen Kooperationspartner*innen bringt die Einrichtung Projekte für die Stadt Bad Rodach auf den Weg, zum Beispiel für die Integration von Flüchtlingen oder eine Kinder- und Jugendbücherei. Ein Markenzeichen des MGH AWO Treff Bad Rodach ist es, sich nicht auf Erfolgen auszuruhen. Neue Vorhaben werden gemeinsam mit dem Träger – dem AWO Kreisverband Coburg – vorbereitet. So hat dieser ein benachbartes Gebäude erworben, um das MGH räumlich zu erweitern. Aufgrund verschiedener Gründe ziehen sich Abriss und Umbau länger hin als geplant. Wir müssen das Beste aus der Situation machen. Aus diesem Grund soll die Fläche zwischen beiden Gebäuden bereits jetzt als Sitzfläche für Besucher*innen dienen. Der AWO Kreisvorstand mit Harald Dütsch als ehrenamtliches Aufsichtsgremium hat dafür bereits „grünes Licht“ gegeben.

Wenig ansehnlich ist aber noch die Rückwand der gekauften Immobilie. Aus diesem Grund haben wir ein Konzept entwickelt, wie die wenig inspirierende Rückseite gestaltet werden kann: Einen Förderantrag für ein Graffiti-Projekt mit Kindern und Jugendlichen hat der AWO Kreisverband Coburg schon gestellt. Wenn wir einen Zuschuss bekommen, können wir das angehen. Stehen bleiben sei für ein Mehrgenerationenhaus ein Rückschritt, weiß Nicole Voigt aus der langen Erfahrung als MGH-Leitung. In solchen Einrichtungen spiegeln sich Dynamik und Probleme unserer Gesellschaft wider, weil sie Menschen unterschiedlichen Alters, Geschlechts, Herkunft oder sexueller Identität zusammenbringt. Ob bei der Integration von Zugewanderten, während der Corona-Pandemie oder beim Thema Digitalisierung – das MGH AWO Treff Bad Rodach hat immer rasch auf aktuelle Entwicklungen reagiert. Nur so ist es möglich, das MGH erfolgreich zu führen.


Carsten Höllein (48 Jahre) ist Sozialwirt und Geschäftsführer des AWO Kreisverbandes Coburg, der Träger des MGH AWO Treff Bad Rodach ist. Der AWO Landesverband Bayern hat ihm auch die fachliche Vertretung der bayerischen MGH in AWO Trägerschaft übertragen.

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