Dienstag, 30. April 2024

Aus den Blauen Zonen lernen

Nebenbei gesund

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Tanja Klement
Tanja Klement
Tanja Klement kümmert sich um Social Media und Podcast. Nach Feierabend sitzt sie gerne noch an der Nähmaschine.

Chancen der lebensverlängernden Stadtplanung

In der Stadtplanung werden Entscheidungen getroffen, die über Jahre und Jahrzehnte den Alltag, die Entwicklung und die Möglichkeiten einer Stadtgesellschaft beeinflussen. Eine große Rolle spielen dabei die zum Planungszeitpunkt angestrebten Ideale und Gegebenheiten. Straßen und Wege können schließlich nicht gleichzeitig ideal für Autos, Schienenverkehr und Fußgänger*innen angelegt werden. Im Sinne der Verkehrswende und des Klimaschutzes entstehen inzwischen vermehrt Konzepte, die darauf ausgelegt sind, dass fast alle alltäglichen Bedürfnisse fußläufig bzw. im Kiez, Quartier oder Veedel befriedigt werden können.

Quasi nebenbei entstünden dabei in den Kiezen auch soziale Gemeinschaften, etwa durch die regelmäßigen Begegnungen beim Einkauf. Für Alleinlebende würde damit auch das gerade in Großstädten problematische Phänomen der Vereinsamung abgemildert. Mit solchen und ähnlichen Effekten beschäftigt sich auch Dan Buettner, der seit Jahren die sogenannten Blauen Zonen analysiert, seine Ergebnisse unter anderem im Magazin National Geographic publiziert und für Netflix in einer Dokureihe aufgeschlüsselt hat. Als Blaue Zonen werden Gegenden bezeichnet, in denen überdurchschnittlich viele Menschen 100 Jahre und älter werden. Im Jahr 2016 waren fünf solcher Blauen Zonen bekannt: Okinawa (Japan), Sardinien (Italien), die Nicoya-Halbinsel (Costa Rica), Ikaria (Griechenland) und Loma Linda (Kalifornien, USA).

Geheimnis der Hundertjährigen

Entdeckt hat Buettner auf seinen Forschungsreisen Faktoren, die von der öffentlichen Hand beeinflusst und sogar bewusst geschaffen werden können. Dazu zählten die tägliche Bewegung, eine überwiegend pflanzliche Ernährung, gesundes Stressmanagement, ein starkes soziales Umfeld und eine sinnstiftende Aufgabe. Mit mehreren Modellkommunen in den USA hat er die Beeinflussung dieser Faktoren bereits erfolgreich getestet und auch in Singapur werden solche Ziele aktiv verfolgt. Aber wieso?

Systeme entlasten

In Gemeinschaften, die nach diesem Muster aufgebaut sind, leben alte Menschen meist nicht in Pflegeeinrichtungen. Auch jüngere Einwohner*innen sind im Vergleich zu anderen Regionen gesünder. Angesichts des demographischen Wandels bieten diese Prinzipien großes Potenzial, das Pflegesystem zu entlasten, ältere Mitmenschen in eine aktive Gemeinschaft zu integrieren und so eine lebendige und resiliente Stadtgesellschaft zu unterstützen. Durch die allgemein zuträgliche Auswirkung auf die Gesundheit würde zudem die Belastung für das Gesundheitssystem gemindert, Stress und Lifestyle-Erkrankungen reduziert. Natürlich können Kommunen nur begrenzt auf die Ernährung, das soziale Umfeld oder die Bewegungsgewohnheiten von Einzelpersonen einwirken. Aber mit strukturellen Entscheidungen in der Stadtgestaltung, mit der Förderung von sozialen Projekten sowie mit Vorgaben oder Kooperationen für das Essen an Schulen, Kindergärten und in Kantinen öffentlicher Arbeitgeber werden die Menschen immer wieder sanft in die richtige Richtung geschubst. Die gesetzlichen Krankenkassen verfolgen seit einigen Jahren ein ganz ähnliches System, indem sie gesundheitsfördernde Gewohnheiten mit Boni belohnen.

Können wir das schaffen?

In den eng bebauten Städten ist Stadtplanung vor allem eine Suche nach geeigneten Flächen. Doch wenn man kreativ denkt, bieten sich auch hier passende Lösungen. So berichtet etwa Alexander Mittag, Fraktionsvorsitzender der SPD-Stadtratsfraktion in Delmenhorst, dass es gelungen sei, ehemalige Kaufhäuser in barrierearme Wohneinheiten umzubauen. Die neuen Bewohner*innen, zumeist im Rentenalter, könnten so ihren Bedürfnissen entsprechend, gut angebunden und zentral leben. Auch er spricht von einem probaten Mittel gegen die Vereinsamung im Alter. Gerade die barrierearme oder barrierefreie Umgestaltung der Städte sei nicht über Nacht möglich, so Dr. Hanno Ehrbeck, Fachbereichsleiter Geoinformation und Stadtplanung der Stadt Mannheim. Bei Gebäuden in Privatbesitz könne man nur über Förderungen und Informationsangebote unterstützen. Bei den kommunalen Liegenschaften und Flächen sei man jedoch auf einem guten Weg. Er gibt auch zu bedenken, dass allein die Umgestaltung des ÖPNV ein kostspieliges und aufwändiges Unterfangen sei. Nicht alle Maßnahmen und Projekte stoßen auf Zuspruch. Baumfällungen, Umleitungen und andere Umformungen der Stadt, die für die Bewohner*innen auch ihr Heimatgefühl betreffen, lösen teils gravierende Proteste aus. Sally Below ist Urbanistin und berät Ministerien, Kommunen und Institutionen. Sie begrüßt die aktive Anteilnahme seitens der Bevölkerung und freut sich auch, wenn daraufhin Kompromisse und alternative Lösungen gefunden werden können. Manchmal brauche das aber etwas Geduld. Städte befinden sich im ständigen Wandel, um den Bedürfnissen ihrer Bevölkerung gerecht zu werden. Klimamanagement, Hochwasserschutz, Verkehrswende, Wohnungsnot und demografischer Wandel sind die aktuell wichtigsten Herausforderungen für Stadtplaner*innen. Es gilt, jeden einzelnen Quadratmeter optimal zu nutzen – für Mensch und Umwelt. Entsiegelte Flächen bringen mehr Grün, ein gutes ÖPNV-Netz verringert den Bedarf an Parkplätzen, mehr attraktive Wohnungen für Ruheständler*innen machen größere Wohneinheiten frei für Familien, kurze Wege im Alltag verhindern manchen Verkehrsstau. Ganzheitlich gedacht können die Lösungen der Stadtplanung ineinandergreifen und Synergien schaffen, die die Lebensqualität steigern, die Umwelt schonen und den Menschen ein langes Leben bescheren.

Mehr zum Thema findet ihr in der Diskussionsrunde „Stadtplanung im 21. Jahrhundert – zwischen politischen Ansprüchen und urbaner Realität“ auf neuestadt.org.

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