Freitag, 3. Mai 2024

Über Grenzen hinweg

Gelehrt ist gelernt

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Viele junge Leute sind neugierig und suchen Perspektiven – manche gehen zum Arbeiten ins Ausland. Neuerdings stellen Kommunen Erzieher*innen aus anderen Ländern ein. Von den neuen Erfahrungen profitieren alle. 

In Deutschland fehlen laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung rund 230.000 Erzieher*innen bis zum Jahr 2030. Schon jetzt bekommen nicht alle Eltern für ihre Kinder einen Kita-Platz, obwohl er gesetzlich garantiert ist. Manche klagen gegen ihre Kommune. Ab August 2026 besteht außerdem ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für alle Grundschulkinder. Das bringt die Städte in eine noch schwierigere Lage.

Jahrelang wurden zu wenige Erzieher*innen ausgebildet. Denn die Ausbildung in der Fachschule war unbezahlt und die Ausbildungszeit war lang, je nach Vorbildung bis zu fünf Jahre. Das ändert sich gerade erst: Seit kurzem gibt es bezahlte duale Ausbildungsplätze für Erzieher*innen – eine Reaktion auf die Personalnot. Sie verschärft auch den Fachkräftemangel in anderen Bereichen, weil Eltern nicht so schnell wieder in ihre Berufe einsteigen können.

Was ist die Lösung? Mehr junge Leute ausbilden, für gute Arbeitsbedingungen sorgen und fertig ausgebildete Erzieher*innen aus dem Ausland einstellen. Das geht schnell und ist innovativ. Mehrere Kommunen in Hessen gehen bereits diesen Weg – und zwar mit Erfolg. So sagt der Erste Stadtrat von Neu-Isenburg, Stefan Schmitt: „Die internationalen Erzieherinnen sind schon nach kurzer Zeit eine Bereicherung für unsere Kitas. Sie tragen zur hohen Qualität in unseren Einrichtungen bei. Die Mehrsprachigkeit sehen wir dabei als wertvolle Ressource.“

Die Stadt Neu-Isenburg hat die Agentur TalentOrange mit der Suche nach geeigneten Bewerber*innen im Ausland beauftragt. TalentOrange ist ein spezialisierter Personaldienstleister für internationale Fachkräfte im Erziehungs- und Gesundheitswesen  mit eigener Sprachschule. Die Agentur rekrutiert pro Jahr ca. 400 Gesundheitsfachkräfte (Pflegekräfte, Hebammen, MTRAs, Physio- und Ergotherapeut*innen) sowie ca. 50 Erzieher*innen aus Lateinamerika, Asien und Namibia für ihr Programm. Die Teilnehmer*innen erhalten ein Stipendium zum Deutschlernen bis zum Goethe- oder telc-Zertifikat B2. TalentOrange organisiert den Sprachkurs, erledigt die Einreiseformalitäten, sorgt für Flug und Transfer, sucht eine Wohnung und vermittelt einen Arbeitsvertrag in einer deutschen Klinik oder Kita.

Für Bewerber*innen aus dem Ausland ist das interessant, weil sie in ihrer Heimat trotz eines abgeschlossenen Studiums oft keinen passenden Arbeitsplatz finden. Zur wirtschaftlichen Unsicherheit kommen in manchen Herkunftsländern unstabile politische Verhältnisse und eine hohe Kriminalitätsrate hinzu. Die Talente aus dem Ausland wissen die vergleichsweise gute Bezahlung in Deutschland zu schätzen, ebenso die Arbeitsplatzsicherheit, unsere gute Gesundheitsversorgung sowie das Bildungssystem.

TalentOrange wählt Bewerber*innen aus, die sich durch gute Noten in Schule und Studium auszeichnen. In einem mehrstufigen Assessment prüft die Agentur außerdem ihre fachliche und persönliche Eignung. In einem kurzen Test stellen die Bewerber*innen ihre Fähigkeit zum Erlernen der deutschen Sprache unter Beweis. Sieben Monate lang dauert dann der Sprachkurs. Er umfasst sechs Stunden Unterricht pro Tag plus Hausaufgaben – ungefähr zwei Stunden pro Tag. Die Bewerber*innen verpflichten sich, während dieser Zeit nicht zu arbeiten, sondern sich ganz auf das Lernen zu konzentrieren. Dafür erhalten sie ein Stipendium. Die Sprachschule von TalentOrange bietet zusätzlich Aussprachetraining und individuelle Nachhilfe an. In der Zwischenzeit erledigt die Agentur die Behördenangelegenheiten. Die meisten Sprachkurse finden in den Herkunftsländern statt. Doch die Agentur hat in der Nähe von Frankfurt einen eigenen Ausbildungscampus mit Sprachschule, Pflegeschule und 30 Wohnheimzimmern errichtet. So kann ein Teil der Kandidat*innen den zweiten Teil des Sprachkurses in Deutschland absolvieren.

Die Kommunen als Arbeitgeber sind mit diesem Konzept zufrieden. Stadtrat Stefan Schmitt aus Neu-Isenburg sagt: „TalentOrange hat uns fachlich sehr gut ausgebildete und hoch motivierte Erzieherinnen vermittelt. Sie alle haben ein Hochschulstudium in Pädagogik der frühen Kindheit, Berufserfahrung und sprechen auf einem guten Niveau Deutsch. Sie sind ein Gewinn für unsere Einrichtungen.“

(Foto: Privat)

Auch in den Städten Bad Homburg und Hanau arbeiten bereits Erzieherinnen aus Lateinamerika. Axel Weiss-Thiel, Bürgermeister der Stadt Hanau, freut sich vor allem über mehr Diversität in den Kitas: „Wir sind sehr stolz darauf, dass die Kindertagesbetreuung in Hanau vielfältig und bunt ist. Deshalb passt es auch, dass wir uns in diese Richtung weiter öffnen. Wir sehen eine große Chance darin, in Kooperation mit TalentOrange Zuwanderung aktiv zu gestalten. Wir freuen uns sehr über die kulturelle und fachliche Bereicherung durch die lateinamerikanischen Kolleginnen.“ 

Der „Eigenbetrieb Kita Hanau“, der 31 Kindergärten umfasst, hat einen Instagram-Account, auf dem er um Personal wirbt. Zwei „unserer“ kolumbianischen Erzieherinnen, die seit November 2022 in einer Hanauer Kita ihr Anerkennungsjahr absolvieren, wurden darin bei der Arbeit porträtiert. Im diesem Video fliegen sie mit ihrer Gruppe einmal um die Welt – wie passend!   


(Foto: Privat)

Uta Rasche ist Leiterin Public Relations und Public Affairs der Talent Orange GmbH. Davor war sie Redakteurin in der Politischen Redaktion der FAZ und Politikberaterin im Sektorvorhaben Migration der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH.

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